Junge Menschen mit Behinderungen beteiligen
Um die Frage, wie junge Menschen mit Behinderung besser beteiligt werden können, ging es im
Dialog mit Helen Ghebremicael, Referentin bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe, und Dr. Christian Lüders, Vorsitzender des Landesjugendhilfeausschusses Bayern. Dabei wurde schnell klar: Es braucht ein gemeinsames Verständnis von Beteiligung in beiden Systemen – auch wenn in der Eingliederungshilfe der weiter gefasste Begriff der Teilhabe konstitutiv ist. Beteiligung meint die breite Mitwirkung an und Mitgestaltung von Entscheidungsprozessen, die individuelle Belange in allen Lebensbereichen sowie institutionelle Regelungen betreffen (s. die ausführliche Definition zu Beginn des Vortragsvideos).
Die Behindertenhilfe hat eine etablierte Praxis der Selbstvertretung von Menschen mit Behinderung. Es ist eine Errungenschaft der Behindertenhilfe, individuell auf die Bedarfe der jungen Menschen zu schauen und dabei auch Angehörige einzubeziehen: Eltern und Geschwister sind oft Expert*innen der jungen Menschen und können viel einbringen, wenn es um ihre Belange geht.
In einer inklusiv ausgerichteten Kinder- und Jugendhilfe sind alle bisherigen Verfahren bis in die Alltagsroutinen hinein im Hinblick auf die Beteiligung von jungen Menschen mit Behinderungen zu überprüfen. Dafür benötigen Fachkräfte eine entsprechende Qualifizierung – nicht zuletzt, um junge Menschen zur Beteiligung zu befähigen. Vertreter*innen aus der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe können Lernprozesse gemeinsam gestalten, damit beide Systeme voneinander profitieren. Inklusiv ausgerichtete Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung zu formulieren ist herausfordernd. Klar ist: Junge Menschen mit Behinderung – egal, welche Behinderung sie mitbringen – müssen beteiligt werden. In der Praxis sind dafür Ressourcen und institutionelle Rahmenbedingungen vonnöten.
Fokus: Inklusive Schutzkonzepte
Inklusiver Kinderschutz in der stationären Erziehungshilfe
Kinder und Jugendliche, die in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe leben, haben in ihrem Leben zu hohen Anteilen bereits Gewalt erlebt. 62% der Betreuten waren vor ihrer Unterbringung bereits von sexueller Gewalt betroffen, ähnlich häufig auch von psychischer und körperlicher Gewalt. Gerade frühere Missbrauchserfahrungen führen auch während der stationären Unterbringung zu einer erhöhten Viktimisierungsrate von 19% (mehrheitlich Peer-to-Peer-Übergriffe).
Dies machte
Dr. Regine Derr, Deutsches Jugendinstitut e.V., in ihrem Vortrag deutlich. Dabei haben bestimmte Gruppen von Jugendlichen eine
deutlich erhöhte Vulnerabilität, insbesondere junge Menschen mit
kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen. Umso bedeutender ist es, Schutzkonzepte inklusiv zu gestalten und dabei Gruppen- und Einzelfallpädagogik zu kombinieren. Erfolgversprechend bei der Entwicklung inklusiver Schutzkonzepte ist der Blick auf präventive Modellprogramme, z.B. PräviKIBS©, und auf Erfahrungen aus Nachbarfeldern wie der „Eingliederungshilfe für Erwachsene“ und aus inklusiven Schulsettings.
Vielfalt erhöht den Schutz!
Dr. Thomas Meysen, International Centre for Socio-Legal Studies, Heidelberg, spannte in seinem Vortrag
„Recht als Antrieb oder Getriebe – wieviel rechtliche Veränderungen braucht es wirklich für inklusive Schutzprozesse?“ den Bogen von grundlegenden rechtlichen Herausforderungen (Betriebserlaubnis, Schutzkonzepte, Erfüllung von Anforderungen nach SGB VIII und IX) hin zur Frage: Welche Veränderungen und Haltungen braucht die Praxis, um dem hohen Anspruch an eine inklusive Jugendhilfe mit entsprechenden Schutzkonzepten gerecht zu werden? Denn: „Schutzkonzepte müssen in den Einrichtungen gelebt werden und nicht in den Aktenordnern hängen!“
Dass die Zusammenführung der beiden Systeme Unsicherheiten hervorruft, ist klar. Doch die Forschung zeigt: Vielfalt in Settings erhöht den Schutz, homogene Settings verringern ihn. Homogene Gruppen mit einer hohen fachlichen Spezialisierung sind aber nicht unbedingt gut für die jungen Menschen, sondern primär für die Organisation des Arbeitsalltags. So lässt sich fragen: Welche Vielfalts-Dimensionen könnten denn funktionieren? Und was hilft Fachkräften dabei, mit der neuen Situation umzugehen? Ein zentraler Punkt auf dem Weg dorthin, so Meysen: „Für den Umgang mit Vielfalt brauchen wir eine Vielfalt an Fachlichkeit, also die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams.“
Ermutigen, begeistern – “und einfach machen”
Johann Hartl, Deutsches Jugendinstitut e.V
., stellte in der
AG 1 „Eckpunkte für inklusive Schutzkonzepte” vor. In der Diskussion traten zunächst die Herausforderungen zutage: Schon jetzt sind die aktuellen Qualitätsstandards kaum zu halten! Wie lassen sich belastete, aber für die konkrete Umsetzung verantwortliche Fachkräfte für diese große Umwälzung begeistern?
Formuliert wurden aber auch wichtige Impulse für eine gelingende Schutzkonzept-Umsetzung. Dabei kam zum Ausdruck: Es braucht eine von der Leitungsebene geschaffene Atmosphäre, die Mut macht: zum „einfach Ausprobieren“ und damit auch zur „Fehlerfreundlichkeit“. Außerdem werde mehr Supervision und die fachliche Anbindung der Teams benötigt, um im inklusiven Sinne lernen zu können.
Für die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) und der Eingliederungshilfe (EGH) sollten neue Formate der Begegnung und des Austauschs geschaffen werden. Dies trage auch dazu bei, dass Leitungen eine (positive) Vorstellung davon bekommen, welche Ressourcen in der EGH verfügbar sind, um diesen Prozess perspektivisch denken und umsetzen zu können. Uneinigkeit bestand in der Frage, ob es bei der Gestaltung von Multiprofessionalität wirklich ein Mehr an Ressourcen oder vielleicht nur andere „Matches“, “Fachkräfte-Mixes“, braucht, um fachliche Bedarfe abdecken zu können und gegenseitige Lernprozesse in Gang zu bringen.
Es gibt kein universell gültiges Schutzkonzept
Frei von sexualisierter Gewalt in pädagogischen Einrichtungen aufwachsen:
Prof.in Dr. Karin Böllert und
Ronja Hingst, B. A., sowie die anschließenden Diskussionen der
AG 2 „Nähe und Distanz in stationären Einrichtungen der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe“ (ein Teilvorhaben des BMBF-geförderten Projektes „Schutzinklusiv“) führten eindrücklich die Notwendigkeit inklusiv ausgerichteter Schutzkonzepte sowie die besonderen Herausforderungen im Umgang mit Nähe und Distanz in inklusiven Settings vor Augen.
Zwei Erkenntnisse sind: Viel Personal bedeutet nicht zwangsläufig mehr Schutz. Vielmehr müssen die Zuständigkeiten klar verteilt sein, damit alle Kinder im Blick bleiben. Und: Fachkräfte müssen immer wieder die eigene Haltung reflektieren, um Grenzüberschreitungen (auch in digitalen Räumen) zu erkennen. Dafür ist regelmäßige Supervision unerlässlich. Auch wenn Schutzkonzepte nicht universell sein können, so bleibt eines unumstößlich: Die jungen Menschen allein entscheiden über körperliche Nähe – die Frage der Mitbestimmung ist und bleibt an dieser Stelle zentral.
Institutionelle Gewaltprävention niedrigschwellig weiterentwickeln
In der
AG 3 „Gewaltpräventive Einrichtungskultur in inklusiven Settings“ stellte
Dr. Peter Caspari, Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), das in neun Einrichtungen erprobte
IPSE-Projekt (Instrument zur partizipativen Selbstevaluation) als Beitrag zu einer niedrigschwelligen gewaltpräventiven Organisationskultur in inklusiven Settings vor. Trägern und Verbänden, aber auch Fachstellen, Heimaufsichten und Jugendämtern gibt
IPSE Orientierung bei der Weiterentwicklung institutioneller Gewaltprävention. Die Selbstevaluation geht den Fragen nach: Was läuft bereits gut? Was muss noch verbessert werden? Sie dient als
Grundlage für die Planung von konkreten Entwicklungsschritten und bietet anhand konkreter Dimensionen eine
Überprüfung der gewaltpräventiven Maßnahmen.
Partizipative Arbeit: mehr Sensibilisierung, weniger Konflikte
„Adressat*innen einbeziehen in die Gewaltprävention – Einblicke aus der Eingliederungshilfe“ war das Thema der
AG 4 von
Cordula Wilberg, Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung Seelze e.V. Was ist Gewalt? Was sind Grenzverletzungen? Welche Formen von Gewalt und struktureller Gewalt gibt es? Die Beantwortung dieser grundlegenden Fragen dienen dem
Wissensaufbau und der
Bewusstseinsschärfung. Betont wurde auch, dass
Regeln immer gemeinsam und bedarfsorientiert erarbeitet werden sollten: von den Mitarbeiter*innen
und den Adressat*innen. Wenn dabei im Team Ängste, Unsicherheiten, Unzufriedenheit oder gar Unmut auftreten, ist es wichtig, miteinander im Austausch zu bleiben. Für Partizipation müssen zwar ausreichend personelle Ressourcen bereitgestellt werden, aber die Investition lohnt sich, weil sie insgesamt zu
mehr Sensibilisierung und
weniger Konflikten führt. Einigkeit bestand auch darin, dass ein
konstruktiver Umgang mit Fehlern und
regelmäßiges Feedback zu einer insgesamt positiven Kultur in den Einrichtungen führen.
Eine inklusive Praxis kann nur eine reflexive Praxis sein
In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gibt es
wirkmächtige Kategorisierungen: die Unterscheidung von so genannten Regelkindern, Risikokindern und Kindern mit einem diagnostizierten besonderen Förderbedarf. Vielfach werden zusätzliche Unterstützungsleistungen für Kinder mit besonderen Bedarfen nur gewährt, wenn eine Diagnose vorliegt – und damit den jungen Menschen
Entwicklungsdefizite zugeschrieben werden.
Die AG 5 von Prof’in Dr. Heike Wiemert, Katholische Hochschule NRW, Köln,
„Differenzkonstruktionen und individualisierten Unterstützungsstrategien aus der Perspektive pädagogischer Fachkräfte in inklusiv ausgerichteten Einrichtungen“ befasste sich mit dem Dilemma, das sich daraus für Fachkräfte ergibt: Zum einen sollen sie eine ressourcenorientierte Haltung im Umgang mit jungen Menschen mit Behinderung einnehmen und sich von Kategorisierungen lösen; zum anderen müssen sie Zuschreibungen vornehmen, um Zusatzleistungen für einzelne Kinder zu erschließen. Dieses Spannungsfeld ist nicht aufzulösen – es erfordert einen
transparenten und reflexiven Umgang in der Praxis.
Abschlussdiskussion: Vielfalt als Normalität in der Kinder- und Jugendhilfe
„Die Zeit des Trockenschwimmens ist vorbei. Wir müssen ins praktische Tun kommen, voneinander lernen und die Kompetenzen aus beiden Disziplinen gut zusammenbringen.“ Von diesem Punkt aus entspann sich bei der
abschließenden Podiumsdiskussion ein engagierter Austausch zu den großen Themensträngen, die auf der Tagung bereits aufgerollt worden waren. Denn: Bei allem Respekt vor der anspruchsvollen Aufgabe, die noch vor der Jugend- und der Eingliederungshilfe liegt, war und ist das große gemeinsame Anliegen, nicht bei den Bedenken und Barrieren anzusetzen,
sondern dort, wo es schon gut läuft und wo Inklusion schon gut gelingt.
Auf dem Weg zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe brauchen wir folgende Haltung:
- Schutz für junge Menschen mit Behinderungen wird häufig verstanden als „behütetes Aufwachsen jenseits der gesellschaftlichen Normalität“. Im Gegensatz dazu lautet aber der Auftrag, Vielfalt zu ermöglichen! Es gilt, Verschiedenheit und Vielfalt als gesellschaftliche Normalität anzuerkennen, wertzuschätzen und daraus keine Teilhabebeschränkungen erwachsen zu lassen.
- Wir brauchen den verschränkten Blick von Jugendhilfe und Eingliederungshilfe, bei dem sich der (sprachliche) Zugang zu den jungen Menschen und das Verständnis für ihren Lebenskontext, ihre Bezüge, ihr Familiensystem ergänzen. Die beiden Systeme müssen miteinander ins Gespräch kommen und gegenseitig ihre Sprache lernen. Dafür müssen Orte geschaffen werden.
- Der Fachkräftemangel ist Fakt, er lässt sich nicht verleugnen – aber er sollte auch nicht zum Totschlagargument werden. Es gibt Fachkräfte in beiden Disziplinen. Dies sollten wir als beteiligte Akteure wertschätzen und nutzen, indem wir die vorhandene Fachlichkeit zusammenführen!
- Inklusion sollte nicht als „Add-on“ betrachtet werden, sondern ist von vornherein mitzudenken und zu verankern – in Ausbildungsgängen, in Schutzkonzepten, in der Zusammenarbeit von öffentlichen und freien Trägern. Zugleich sind Unsicherheiten auf der Ebene der Organisationen und der Fachkräfte ernst zu nehmen. Die Verunsicherung ist in beiden Systemen ähnlich ausgeprägt; mit zunehmendem Wissen voneinander und zunehmender Überschneidung nehmen die Ängste ab.
„Wir haben die einmalige, ja – mit Blick auf die aktuelle politische Landschaft – vielleicht sogar die letztmalige Chance, eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe zu gestalten – und ich kann Sie nur ermutigen, diese Chance zu nutzen! […] Wir müssen – auch im Sinne der Erhaltung unserer Demokratie – hier ein Zeichen setzen!“ Mit ihrem Schlussplädoyer appellierte Prof.in Dr. Karin Böllert an die Teilnehmenden der Tagung, an die Fachpolitik und die Politik, das soziale Projekt „Inklusive Kinder- und Jugendhilfe“ in die Tat umzusetzen. Denn, so ergänzte Rolf Diener, Oberste Landesjugendbehörde Bremen: „Inklusion ist das normale Leben! In meiner privaten Familie kann ich mir auch nicht aussuchen, ob ich inklusiv leben will. Dies gilt gleichermaßen für unsere Systeme und Organisationen:
„Wir entwickeln die Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder inklusiv weiter!“
Rolf Diener, Oberste Landesjugendbehörde Bremen