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Aktuelles

Jugendliche und Corona: ein Interview

18. November 2020


Jugendlicher mit Maske

Von gefährdeten Bildungskarrieren und nicht erfüllten Entwicklungsaufgaben – SOS-Mitarbeiterin Maria Stock im Interview

Das Verhalten von Jugendlichen gegenüber den Corona-Maßnahmen stand immer wieder in der Kritik. Sie würden sich trotz Verboten treffen, feiern und ihre Umwelt mit diesem Verhalten gefährden. Maria Stock, Leiterin der SOS-Familien- und Erziehungsberatungsstelle und Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt, berichtet aus der Praxis von der anderen Seite: Über die Sorgen und Nöte, über die Gefahr abzurutschen und gefährdete Bildungskarrieren. Sie erklärt, wie Jugendliche unterstützt werden können und wie die Beratungsstelle mit ihnen arbeitet.  

Frau Stock, wie geht es den Jugendlichen und den Familien im Landkreis?

Die Familien nehmen die Corona-Beschränkungen sehr unterschiedlich wahr: Wir haben Familien die sagen, dass es ihnen besser geht, sie zusammengewachsen seien und ihr Leben sich entschleunigt habe. Jugendliche, die gut von ihrer Familie unterstützt werden können und resilient sind,- also die Eigenschaft besitzen, mit belastenden Situationen gut umzugehen -, kommen in der Regel auch gut mit der aktuellen Situation zurecht - also drohende Schulschließungen und Kontaktverbote.

SOS-Mitarbeiterin Maria Stock

SOS-Mitarbeiterin Maria Stock leitet die Erziehungsberatungsstelle in Landsberg

Was berichten Jugendliche, die sich mit den Corona-Maßnahmen belastet fühlen?

Diese berichteten, dass insbesondere der Lockdown für sie eine anstrengende Zeit war. Sie mussten sich Dinge selber und in Isolation beibringen und sich selber zum Lernen organisieren und motivieren. Eine Klientin berichtete beispielsweise, wenn sie sich am Vormittag den Schulstoff selber erarbeiten müsse, dann sei das viel anstrengender, als wenn man in der Schule sitze und aufnimmt, was der Lehrer vorträgt. Die Lerngeschwindigkeit verringere sich daher. Die Angst und Sorge der Schüler, dass ein solcher Lockdown mit unregelmäßigem oder gar keinem Schulunterricht wiederkommt, ist daher sehr groß. Viele sind sehr verunsichert.  

Wie ist der Umgang in den Familien damit?

Der Umgang damit verläuft je nach Familiensituation sehr unterschiedlich. Wenn Eltern beispielsweise alleinerziehend sind, ein niedrigeres Bildungsniveau oder einen Migrationshintergrund haben, dann können Jugendliche häufig nicht in einer erforderlichen Weise begleitet werden. Sie waren oft vorher schon benachteiligt, mit den Corona-Maßnahmen besteht die Gefahr, dass sie den Anschluss verlieren. Da gibt es eine große Gefahr von Brüchen in der Schullaufbahn. So kamen beispielsweise Eltern mit ihrem jugendlichen Sohn zu uns in die Beratungsstelle. Dieser ist aufgrund schulischer Probleme im Februar von der Realschule auf die Mittelschule gekommen. Durch den Lockdown ist er dort jedoch nie richtig angekommen und rutschte aus Frust und durch ungute Kontakte ins Drogenmilieu ab.

Vermehrt berichten die Medien darüber, dass Jugendliche sich trotz Verboten treffen und feiern. Was sagen Sie dazu?

Ich finde es wichtig, an die Jugendlichen zu appellieren, dass sie sich an die Regeln halten - ganz klar! Aber so ein generelles Schimpfen auf die Jugendlichen, weil nun die Infektionszahlen steigen finde ich schwierig. Und auch diese moralische Argumentation, dass Jugendliche das Leben ihrer Großeltern gefährden, wenn sie jetzt feiern, ist meines Erachtens schwierig. Was man dieser Generation für eine Last aufbürdet! Jeder kann derzeit erkranken, denn die Infektionsketten sind kaum noch zu verfolgen. Wie müssen sich Jugendliche fühlen, wenn so etwas tatsächlich passiert?

Hier gibt es auch noch eine andere Sache, die ich wichtig finde zu bedenken: Jugendliche werden gerade in einem wichtige Entwicklungsschritt ausgebremst.

Was meinen Sie damit?

Es ist die Entwicklungsaufgabe der Jugendlichen, sich von den Eltern schrittweise zu lösen und sich an die Peergruppe nach außen zu orientieren. Hier machen sie Erfahrungen mit Gleichaltrigen, die ganz wichtig für ihre emotionale und psychische Entwicklung sind. In diesem wichtigen Entwicklungsschritt werden sie nun ausgebremst. In Gesprächen mit Jugendlichen erfahre ich, dass sie schwer verstehen können, dass man in Schulklassen, Bussen und Bahnen dicht gedrängt sitzt, sich aber in der Freizeit nicht treffen darf.

…und die Regelstrenge wird nach der Risikogruppe ausgerichtet…

Ein Mädchen sagte mir im Gespräch, dass sie sich ja grundsätzlich gerne an die Regeln hält, dies aber auch irgendwie ungerecht findet: Sie soll darauf achten, insbesondere ältere Menschen nicht zu gefährdetn. Aber die Erwachsenen achten ihrerseits nicht auf Klima- und Umweltregeln und gefährden damit die Zukunft der jungen Leute bezüglich Klimawandel. Von der jugendlichen Generation wird gerade so viel abverlangt und gleichzeitig müssen sie sich Sorgen um ihre Zukunft machen.

Das sind Gedanken, die nachdenklich stimmen! Was bedeutet diese Situation für die Zukunft der jungen Leute?

Ich glaube, dass man jetzt noch gar nicht abschätzen kann, was das bedeutet. In der sogenannten Copsy-Studie haben Wissenschaftler des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf herausgefunden, dass das Risiko an psychischen Erkrankungen durch die Pandemie gestiegen ist.  Jugendliche haben sowieso schon ein Risiko psychisch auffällig zu sein. Doch das Risiko stieg nun von 18 Prozent auf 31 Prozent während der Corona-Krise (https://www.uke.de/allgemein/presse/pressemitteilungen/detailseite_96962.html). Das ist ein bedeutender Anstieg. Auffälligkeiten, wie Hyperaktivität, emotionale Probleme, Verhaltensprobleme und psychosomatische Beschwerden treten vermehrt auf. Dies können wir auch von der Fachstelle bestätigen. Eine Jugendliche erzählte beispielsweise, sie habe das Gefühl der Fremdheit. Viele Eltern klagen, dass ihre Kinder sich vermehrt Medien zuwenden und sich sehr zurückziehen.

Was raten Sie den Eltern von belasteten Jugendlichen?

Wir raten den Eltern spielsuchtgefährdeter Jugendlicher, hier „am Ball zu bleiben“: sich anschauen, welche Spiele sie spielen und auch medienfreie Zeiten zu vereinbaren. Ganz allgemein ist es wichtig, dass die Eltern den Jugendlichen Sicherheit und Struktur bieten. Zum Beispiel durch einen regelmäßigen Tagesablauf. Zudem ist es wichtig, gerade in schwierigen Zeiten Dinge miteinander zu tun, die Freude bereiten und ein Gefühl von Geborgenheit geben. Zum Beispiel gemeinsame Spaziergänge, Spieleabende, aber auch Zeiten für Gespräche. Dabei kann eine gelassene innere Haltung zu der Situation Sicherheit bieten und auch als Vorbild dienen. Dennoch spüren die Jugendlichen auch die Ängste und Sorgen der Eltern. Diese können sie mit ihren Kindern durchaus - natürlich altersgemäß - besprechen. Ich rate den Eltern, den Jugendlichen zuzuhören, welche Sorgen, Ängste und welchen Frust sie haben. Dabei muss man keine Lösung parat haben, sondern kann gemeinsam Lösungen überlegen, wie mit der jetzt schwierigen Situation umgegangen werden kann und was jedem Einzelnen guttut. 

Wie arbeiten Sie mit den Jugendlichen in der Fachstelle?

Wir kommen hier natürlich mit den unterschiedlichsten Fragestellungen in Berührung. Die Jugendlichen emotional begleiten, ihre Nöte wahrzunehmen und sie anzuhören sehen wir als unsere Aufgabe. Wir arbeiten Lösungs- und Ressourcenorientiert und schauen, wie wir aus der Situation des konkreten Einzelfalls Lösungen erarbeiten können. Wir suchen gemeinsam die unentdeckten Ressourcen. Dabei schauen wir auch, ob das Umfeld, wie Verwandte, Nachbarschaft, Lehrer, Organisationen, mit Zeit, emotional, therapeutisch oder finanziell unterstützen können. Dann arbeiten wir an der inneren Haltung der Jugendlichen mit ihrer Situation. Wir erarbeiten mit ihnen, ob sie ihre Sichtweise auf ihre Situation verändern und diese als Herausforderung anpacken können. Sie verstehen ganz oft nicht, dass sie es selber in der Hand haben, ihre Stimmung zu ändern. Ziel ist, sie aus der Hilflosigkeit und Opferrolle der gegebenen Umstände in die Handlungsbefähigung und Selbstwirksamkeit zu führen. In der Not hat man oft einen Tunnelblick, wir bieten Außensicht an.

Was wünschen Sie sich für die Jugendlichen von der Politik?

Was ich mir sehr für die, die in der Schule nun Schwierigkeiten haben und abgehängt werden, wünsche, ist eine Unterstützung in der Schule. Beispielsweise eine zweite Hilfskraft in der Klasse, die den Schülern unter die Arme greift, damit sie den Anschluss wiederbekommen. Vielleicht wäre auch eine Lösung, Dinge aus dem Lehrplan zu streichen und zu berücksichtigen, dass die Kinder und Jugendlichen nun Zeit brauchen, Dinge zu verarbeiten und Stoff aufzuholen.

Dass Schulen und Kindergärten als letzte Möglichkeit schließen, halte ich für zwingend notwendig. Das macht die Politik meines Erachtens gerade sehr gut. Um Schließungen zu vermeiden, sollte meines Erachtens an Voraussetzungen in der Schule gearbeitet werden, dass die jungen Leute sich nicht anstecken, wie Lüftungsgeräte, Waschbecken mit warmem Wasser etc. Dazu darf ruhig mal Geld in die Hand genommen werden. Wir haben die Verantwortung dafür, dass nicht ganze Bildungskarriere zerstört werden. Unsere Kinder sind schließlich die Zukunft unseres Landes. Da kann ruhig in Köpfe und Seelen investiert werden! Vielleicht zeigt uns die Pandemie, dass wir da zu wenig getan haben. Vielleicht ist dies ein Anlass, darüber nachzudenken, welche Dinge wir versäumt haben, die wir nun nachholen sollten.

Gut zu wissen

Die Mitarbeitenden der SOS-Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern sind auch in diesen Krisenzeiten für Familien in Landsberg und dem Landkreis da. Sie sind montags bis freitags von 9 bis 12 Uhr und von 13 bis 17 Uhr unter der Telefonnummer 08191/911890 oder auch per E-Mail unter fbz-landsberg@sos-kinderdorf.de erreichbar. Termine können flexibel, entweder über Telefon- oder Videoberatung, aber auch persönlich vereinbart werden. Das Angebot ist kostenfrei.


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