Ukrainische Geflüchtete in Deutschland

„Die Geflüchteten müssen erst einmal akzeptieren, dass sie hier sind.“

Die SOS-Einrichtungen in Deutschland nehmen geflüchtete Frauen, Kinder und Familien aus der Ukraine auf und unterstützen sie im Alltag. Inwieweit die Erfahrungen aus der Flüchtlingsbewegung 2015/16 den SOS-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugutekommen und worin sich die Situation heute unterscheidet, erzählt Kirsten Spiewack, Einrichtungsleiterin des SOS-Kinderdorfs Berlin. 

Wie haben Ihnen die Erfahrungen aus 2015 in der aktuellen Situation weitergeholfen?

Wir haben Entscheidungen etwas pragmatischer gefällt. Wir versuchen, die Geflüchteten erst einmal unterzubringen. Das haben wir innerhalb weniger Minuten entschieden. 2015 war das nicht ganz so schnell. Dieses Mal war klar, dass wir irgendwoher Matratzen, Decken und Kleidung herbekommen würden, das hat die Erfahrung gezeigt. Wir wussten, dass wir sofort Übersetzer und eine Form von Beschäftigung für die Geflüchteten brauchen. Das haben wir aus der damaligen Situation gelernt, dadurch ging die Organisation dieser Dinge ganz schnell. 

Was ist das Wichtigste für die Familien bei der Ankunft? 

Das Allerwichtigste ist, ihnen Zeit zu geben und sie nicht zu drängen, sich sofort zu entscheiden, ob sie hier oder woanders bleiben wollen. Die Geflüchteten müssen erst einmal für sich realisieren, dass sie wahrscheinlich nicht wieder in ihr Land zurückkehren können. Also nicht nur kurz- oder mittelfristig, sondern vielleicht sogar längerfristig. Das ist ein unheimlicher Schock. 

Wie unterscheidet sich die Ausgangslage für die Geflüchteten im Vergleich zu 2015?

Die Menschen, die damals aus Syrien geflohen sind, sind sehr lange unterwegs gewesen. Unserer Erfahrung nach hatten sie sich auch schon ein stückweit damit auseinandergesetzt, dass sie höchstwahrscheinlich nicht zurückgehen werden. Sie kamen mit der Perspektive an: „Ich will hierbleiben.“ Die ukrainischen Frauen und Kinder haben noch den Wunsch zurückzugehen. Sie wollen auch wieder mit ihren Männern zusammenleben, die dort kämpfen. Die Familien sind an einem ganz anderen Punkt. Sie können nicht sofort klären, wo sie jetzt für immer leben oder welchen Job sie hier machen wollen. Sie müssen erst einmal akzeptieren, dass sie hier sind. Aber sie hoffen gleichzeitig auch, dass der Krieg bald zu Ende ist und sie zurückgehen können. Diese Gefühle sind berechtigt. Dass man da noch keinen Plan hat, wie es konkret weitergeht, finde ich sehr verständlich. 

Wie geht es den syrischen Flüchtlingen mit der neuen Situation? 

Ich weiß, dass die syrischen Flüchtlinge von damals wahnsinnige Angst haben, dass sich der Krieg in der Ukraine auf Deutschland ausweitet. Sie fragen sich, ob sie jetzt vielleicht wieder fliehen müssen. Die, die geblieben sind, haben sich sieben Jahre etwas aufgebaut. Sie sorgen sich, dass das alles zugrunde gehen könnte oder sie wieder bedroht werden. Viele sind retraumatisiert. Sie haben auch viel daran gearbeitet, dass ihre Familien nachziehen können. Viele junge Menschen sind geflohen und die Eltern oder andere Familienangehörige sind nachgezogen. Bei der Familienzusammenführung haben wir die Menschen oft unterstützt. Die ukrainischen Flüchtlinge sind noch gar nicht so weit. Die Umstände sind ganz andere, die Männer sind aktiv in den Krieg involviert. 

Welche Dinge können Sie dieses Mal besser machen?

Generell ist in der Gesellschaft ein sehr hohes freiwilliges Engagement zu beobachten. Die Menschen bringen wirklich Zeit, Geld und Ressourcen auf, um zu unterstützen. Das ist auch in den Jahren 2015/16 schon so gewesen. Das ist toll. Die Solidarität braucht sich aber irgendwann auf, wenn sich keine Professionalität oder Entlohnung dafür einstellt. Die Menschen gehen schnell über ihre Grenzen und sind dann erschöpft und frustriert. Wir haben von damals gelernt, dass wir rasch in eine Professionalisierung übergehen müssen, also dafür sorgen müssen, dass die Helfer verlässliche Arbeitszusammenhänge haben. Wer arbeitet wie viele Stunden? Bekommen sie dafür Geld oder nicht? Es gibt natürlich weiterhin Menschen, die ehrenamtlich tätig sein wollen. Trotzdem muss geklärt werden, in welchem Kontext sie arbeiten. Damit rechtlich alles in Ordnung ist und die Dinge nicht einfach irgendwie auf unbegrenzte Zeit gemacht werden. Das war 2015/16 chaotischer, auch weil Deutschland überrannt wurde und nicht klar war, wie es überhaupt weitergeht. Wir haben unsere Erfahrungen vor sieben Jahren gemacht. Und auch die Gesellschaft hat daraus eine ganze Menge gelernt.