SOS-Mitarbeiterin Dr. Kristin Teuber, Leitung SPI

„Die Pandemie hat Familien stark unter Druck gebracht“

Bei über 59.900 Kindern und Jugendlichen ist 2021 eine Kindeswohlgefährdung festgestellt worden. Das ist der zweithöchste Wert seit Einführung der Statistik im Jahr 2012. Dr. Kristin Teuber ist Leiterin des Sozialpädagogischen Instituts von SOS-Kinderdorf und erklärt im Interview, wie dieser Anstieg zustande kommt und was Familien brauchen, um auch aus Krisen gestärkt hervorzugehen.

Für das Jahr 2021 meldeten die Jugendämter den zweithöchsten Wert an Kindeswohlgefährdungen. Der Höchststand wurde 2020 erreicht. Ist diese Zunahme einzig durch Pandemie und Lockdowns zu erklären?

Kristin Teuber: Bis jetzt gibt es zumindest keine andere plausible Erklärung. Die Beschränkungen in der Pandemie haben Familien stark unter Druck gebracht. Die Kinder mussten betreut und beim Homeschooling unterstützt werden, gleichzeitig mussten viele Eltern von zu Hause aus arbeiten. Die Essensversorgung in Kita oder Schule fiel weg, Erholungs- und Freizeitaktivitäten konnten nicht stattfinden. Das alleine machte den Familienalltag für viele sehr anstrengend. Noch schwieriger war es für Familien in prekären Lebenslagen – etwa wenn sie Existenzsorgen hatten, beengt leben und zu Hause nur wenige Rückzugsmöglichkeiten bestehen. Unter so einem Druck kann es schon zu schwierigen Dynamiken in Familien kommen.

War auch der Wegfall von Hilfsangeboten für Familien ein Problem?

Kristin Teuber: Zumindest in der Anfangszeit war es so, dass nicht alle Hilfsangebote gut zu erreichen waren. Gerade im ambulanten und offenen Bereich mussten sich auch die Fachkräfte erst einmal darauf einstellen, dass persönlicher Kontakt vor Ort nicht mehr stattfinden konnte. Viele haben sich aber schnell umgestellt, zum Beispiel mit Treffen draußen oder Videotelefonaten. Allerdings waren auch Schulen und Kitas, die die Kinder täglich sehen, zu. So wurden sicher nicht alle Notlagen rechtzeitig erkannt.

In die Statistik geht eine Kindeswohlgefährdung aber nur ein, wenn sie bemerkt wird. Ist die gestiegene Fallzahl vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass das System trotz Corona gut funktioniert hat?

Kristin Teuber: Man kann schon sagen, dass das System insgesamt gut funktioniert hat. Anfangs gab es viel Unsicherheit darüber, wie sich der Kinderschutz in der Pandemie gut umsetzen lässt und die Sorge, dass im Lockdown Gefährdungen übersehen werden könnten. Aber es war jederzeit klar: Der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe besteht fort – auch unter Corona-Bedingungen. Alle Beteiligten haben sich sehr viel Mühe gegeben, den Zugang zu Familien und jungen Menschen zu behalten. Gleichzeitig kamen Verdachtsmeldungen auch von anderen Quellen, zum Beispiel aus dem sozialen Umfeld von Kindern.

Kann es trotzdem sein, dass auch die Dunkelziffer in diesem Bereich gestiegen ist?

Kristin Teuber: Es gibt natürlich immer eine Dunkelziffer in diesem Bereich. Ob diese im vergangenen Jahr gestiegen ist, ist schwer zu sagen, denn es ist eben keine klar fassbare Anzahl. Allerdings dürfte bei höheren Zahlen insgesamt auch die Dunkelziffer gestiegen sein.

War die Form der Gefährdung im ersten Coronajahr eine andere als in Jahren ohne Pandemie?

Kristin Teuber: Die Formen von Kindeswohlgefährdung waren nicht grundlegend anders als sonst. Mit der Schließung der öffentlichen Bildungsinstitutionen Kita und Schule und auch mit den strengen Kontaktbeschränkungen fand zwangsläufig viel mehr im Privaten statt. Kinder hatten also viel weniger oder gar keine Außenkontakte. So konnte die Situation entstehen, dass ein Kind zu Hause Unrecht erleidet und niemand außerhalb der Familie dies bemerkt hat. Das war anders.

Wie lange wird der Corona-Effekt im Kinderschutz noch zu sehen sein?

Kristin Teuber: Das ist nicht eindeutig vorherzusagen. Allgemein gilt wahrscheinlich: Je mehr gelockert wird, umso weniger werden die Stressfaktoren für Familien. Aber wie nachhaltig die Spuren sind, die Corona hinterlassen hat, das wird sehr unterschiedlich sein. Familien, die mehr oder weniger unbeschadet durch die Pandemie gekommen sind, erholen sich schnell. Andere, für die es vielleicht um Jobverlust und Existenzangst geht, werden längere Zeit dafür brauchen. Klar ist zudem, dass Kinder und Jugendliche unter den Einschränkungen gelitten haben und viele davon noch immer belastet sind – über ein enges Verständnis von Kindewohlgefährdung hinaus. Die Regelungen in der Pandemie haben stark in ihr Leben eingegriffen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt. Auch sie brauchen Unterstützung.

Wie kann den durch die Pandemie belasteten Familien jetzt geholfen werden?

Kristin Teuber: Ein zentraler Faktor ist, dass Schulen und Kitas tatsächlich offen bleiben und Familien und Kinder wieder ihren Alltag zurückbekommen. Das entlastet Eltern wie Kinder unmittelbar. Auch längerfristige finanzielle Entlastung von Familien, die durch die Pandemie in Not geraten sind, ist wichtig. Und natürlich ist die niedrigschwellige Unterstützung von Beratung, offenen Angeboten und Familienzentren hilfreich. Es steht allerdings zu befürchten, dass Kommunen, die wegen Corona sparen müssen, diese Angebote einschränken oder nicht weiter finanzieren. Das wäre fatal, denn Familien brauchen diese Angebote jetzt mehr denn je.

Warum sind diese Angebote so wichtig?

Kristin Teuber: Familien sind dann am stärksten, wenn sie auch außerhalb Unterstützung bekommen. Das können Freunde, andere Familien, Nachbarn und auch die Bildungsinstitutionen der Kinder sein. Doch je prekärer Familien leben, umso kleiner sind diese sozialen Netzwerke. Für diese Familien ist es wichtig, dass es einfach zu erreichende Angebote gibt, zu denen sie mit ihren Sorgen kommen können, wo sie unkompliziert Hilfe finden und für ihre Probleme nicht verurteilt werden. Wie wichtig solche Anlaufstellen sind, hat die Pandemie, denke ich, sehr deutlich gezeigt.

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