1. Vorbemerkungen
Der SOS-Kinderdorf e.V. begrüßt grundsätzlich das mit dem Gesetzentwurf u.a. verfolgte Ziel verbesserter Teilhabechancen für alle jungen Menschen. In diesem Zusammenhang bewerten wir es auch positiv, dass an verschiedenen Stellen im Regierungsentwurf (RegE) auf die inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe Bezug genommen wird. Allerdings würde die Zielsetzung eines tatsächlich inklusiven Kinder- und Jugendhilfesystems mit dem vorliegenden Gesetzentwurf noch nicht erreicht. Wir sprechen uns weiterhin nachdrücklich für eine inklusive Lösung mit der entsprechenden Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen aus. Aus unserer Sicht sollte dieses komplexe Vorhaben in der kommenden Legislaturperiode erneut angegangen werden. Dabei lässt sich auf Erkenntnisse aufbauen, die im bisherigen Diskussionsprozess rund um die Reform des SGB VIII sowie zur Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung erarbeitet wurden.
2. Zu ausgewählten Regelungen im Einzelnen
Zu Artikel 1- Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch
Nr. 4 (§ 8 Abs. 3 Satz 1) uneingeschränkter Beratungsanspruch
SOS-Kinderdorf begrüßt den uneingeschränkten und elternunabhängigen Beratungsanspruch ohne Vorliegen einer Not- und Konfliktlage, da er den Zugang zu Beratung grundsätzlich erleichtert und die eigenständige Rechtsstellung des Kindes bzw. Jugendlichen stärkt.
Nr. 7 (neuer § 9a) Ombudstellen
Die Möglichkeit für den öffentlichen Träger der Jugendhilfe Ombudstellen im Sinne der Finanzierungsverantwortung einzurichten, bewerten wir positiv. Allerdings ist eine sinnvolle ombudschaftliche Beratung zwingend mit den Prinzipien der Unabhängigkeit und der fachlichen Weisungsungebundenheit zu verbinden. Diese sollten unbedingt wieder aufgenommen werden, wie es noch in §1 Abs. 4 Satz 5 des Referentenentwurfs vom 17.3.2017 vorgesehen war. Ebenfalls halten wir eine „Soll-Regelung“ für angemessener als eine „Kann-Regelung“. In der Praxis zeigt sich wie wichtig eine ombudschaftliche Beratung ist z.B. dann, wenn Hilfen für junge Volljährige nicht gewährt werden und die Beendigung der Hilfen mit Vollendung des 18. Lebensjahrs droht, obwohl noch weiterhin Unterstützungsbedarf vorliegt.
Wir weisen darauf hin, dass sich mit der vorgesehenen Regelung die Beratung sowie Vermittlung in Konfliktfällen auf alle Leistungen der Jugendhilfe bezieht. Somit würde die Beratung und Vermittlung weit über den mit individuellen Rechtsansprüchen hinterlegten Bereich der Hilfen zur Erziehung hinausgehen, auf den sich z.B. die Beratungsarbeit der im Bundesnetzwerk Ombudschaft zusammengeschlossenen Ombudsstellen und -initiativen konzentriert. Damit bei einer entsprechenden Ausweitung des Anwendungsbereichs tatsächlich eine sinnvolle Beratung und Vermittlung in Konfliktfällen erfolgen kann, bedarf es in den Kommunen eine hinreichende Anzahl von Ombudstellen mit entsprechender Fachlichkeit und Ausstattung sowie inhaltlichen Konzepten.
Nr. 8 (§ 13 Absatz 3) Jugendwohnen
Die vorgesehene Einschränkung des Jugendwohnens auf junge Menschen, die Leistungen nach § 13 Abs. 2 SGB VIII (sozialpädagogisch begleitete Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen) erhalten, lehnt SOS-Kinderdorf ausdrücklich ab. Gerade für junge Volljährige in betrieblicher oder schulischer Ausbildung, die auf dem Weg in die Selbstständigkeit schon weiter fortgeschritten sind, kann eine minderintensive Maßnahme wie das Jugendwohnen eine bedarfsgerechte Hilfe darstellen. Die Möglichkeit des Jugendwohnens sollte daher auch weiterhin denjenigen offenstehen, deren schulische oder berufliche Bildungsmaßnahmen nicht über die Jugendhilfe gefördert werden.
Nr. 14 (neuer § 24a) Berichtspflicht Kindertageseinrichtungen
SOS-Kinderdorf begrüßt die geplante Regelung zur Berichtspflicht gegenüber dem Deutschen Bundestag. Allerdings plädieren wir dafür, dass bei der Berichterstattung nicht nur der quantitative Stand des Förderangebots für Kinder bis zum Schuleintritt in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege berücksichtigt wird, sondern auch der qualitative Stand, wie es in dem Referentenentwurf vom 17.3.2017 noch vorgesehen war. Gerade im Hinblick auf die Bemühungen zur Qualitätsentwicklung und die Forderung nach bundeseinheitlichen Qualitätsstandards in der Kindertagesbetreuung wäre eine entsprechende Datenlage für ein zukünftiges Monitoring erforderlich.
Nr. 15 (§ 27 Absatz 2 Satz 2) Hilfen zur Erziehung
Die Klarstellung, dass unterschiedliche Hilfearten miteinander kombiniert werden können, begrüßt SOS-Kinderdorf, da kombinierte Hilfen oftmals den Bedarfen in der Praxis entsprechen. Die Streichung des bisherigen Satz 2 („Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall; dabei soll das engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden“) erachten wir als ausgesprochen problematisch, denn damit würde ein wesentlicher Leitgedanke dieser Norm nämlich die bedarfsgerechte Hilfe im Einzelfall verändert. Da die Begründung keine Erläuterung zu der Streichung liefert, gehen wir jedoch davon aus, dass die Streichung nicht inhaltlich motiviert ist und fordern dazu auf, den Satz wieder einzufügen.
Nr. 18 (§ 36a) Ergänzende Bestimmungen zur Hilfeplanung bei stationären Leistungen
SOS-Kinderdorf begrüßt grundsätzlich die Intention einer Perspektivplanung, ob eine stationäre Hilfe zeitlich befristet oder auf Dauer angelegt sein soll. Nach unserer Erfahrung gibt es jungen Menschen Sicherheit, wenn ihr kindliches Zeitempfinden dabei stärker berücksichtigt wird. Allerdings halten wir eine Festlegung der Unterbringungsdauer schon zu Beginn der Hilfe, wie es in § 36a Abs. 1 vorgesehen ist, für unangemessen. Am Anfang der Hilfeplanung lässt sich oftmals noch nicht abschließend klären, wie sich die Situation in der Herkunftsfamilie entwickeln wird und ob es eine Rückführungsoption gibt. Wir plädieren deshalb dafür die Norm so zu formulieren, dass sie die Prozesshaftigkeit der Hilfeplanung hervorhebt.
Nr. 18 (§ 36b) Zusammenarbeit beim Zuständigkeitsübergang
SOS-Kinderdorf befürwortet grundsätzlich Regelungen, die dazu beitragen Übergänge für die betroffenen jungen Menschen aus der Kinder- und Jugendhilfe in andere Sozialleistungssysteme sinnvoll zu gestalten und Brüche im Verselbstständigungsprozess zu vermeiden. Folglich ist die Verpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, andere Sozialleistungsträger rechtzeitig in die Hilfeplanung einzubinden, positiv zu bewerten. Auch unterstützen wir, dass die Regelung in § 36b des RegE anders als noch im Referentenentwurf vom 17.3.2017 vorgesehen keine starren Altersgrenzen für den Übergang vorsieht. Um jedoch Nachteile für die Betroffenen, die von der Praxis vielfach als „Verschiebebahnhöfe“ und „Bermudadreieck“ zwischen den Leistungssystemen beschrieben werden, tatsächlich zu vermeiden, muss es bei den anderen Sozialleistungsträgern auch eine Verpflichtung geben, konstruktiv an dem Zuständigkeitsübergang mitzuwirken. Außerdem hat die Zuständigkeit solange bei der Kinder- und Jugendhilfe zu verbleiben, bis die Übernahme durch einen anderen Träger tatsächlich gesichert ist. Hier wäre eine Regelung z.B. analog zu § 86c Abs. 1, der die fortdauernde Leistungsverpflichtung bei einem örtlichen Zuständigkeitswechsel regelt, auch bei einem Zuständigkeitswechsel in ein anderes Sozialleistungssystem aus unserer Sicht erforderlich.
Nr. 27 (§ 71 Abs. 5 Satz 2) Jugendhilfeausschuss
SOS-Kinderdorf begrüßt bezüglich der Zugehörigkeit beratender Mitglieder zum Jugendhilfeausschuss die explizite Nennung selbstorganisierter Zusammenschlüsse von jungen Menschen und ihren Familien, die Leistungen der Jugendhilfe erhalten. Sinnvoll wäre es aus unserer Sicht in diesem Zusammenhang auch selbstorganisierte Zusammenschlüsse ehemaliger Adressat/innen der Jugendhilfe (Careleaver Netzwerke) ausdrücklich aufzuführen.
Nr. 39 (§ 78f) Rahmenverträge
Die vorgesehene neue Regelung in § 78f Abs. 2 zu Rahmenverträgen lehnt SOS-Kinderdorf entschieden ab, da sie eine Diskriminierung von geflüchteten jungen Menschen und somit ein Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention darstellt. Die durch eine derartige Regelung den Ländern eröffnete Möglichkeit, die Kostenerstattung von Hilfen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete davon abhängig zu machen, ob entsprechende Rahmenverträge der obersten Landesjugendbehörden mit den kommunalen Spitzenverbänden und den Verbänden der freien Träger geschlossen wurden, greift in die Verhandlungsfreiheit ein und schwächt einseitig die Position der Wohlfahrtsverbände. Die Sonderrahmenverträge für die Gruppe der jungen Geflüchteten schafft zudem Anreize zur Ungleichbehandlung. Sollte die Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und nicht-geflüchteten jungen Menschen innerhalb einer Einrichtung nach unterschiedlichen vertraglichen Regeln z.B. hinsichtlich der Personalbemessung erfolgen, würde dies zu einem erheblich höheren Verwaltungsaufwand sowie erschwerter Personalplanung und damit verbundener Unsicherheiten für die Beschäftigten führen. Es ist zu befürchten, dass Kommunen dazu gedrängt würden, Einrichtungen ausschließlich für Geflüchtete vermutlich mit einer geringer finanzierten Hilfeform einzurichten, wenn sie die Kosten vom Land erstattet bekommen wollen. Das ist nicht zuletzt im Hinblick auf die Integration von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten höchst ungünstig. Ausschlaggebend für die Hilfe muss weiterhin der individuell ermittelte Bedarf des jungen Menschen sein und nicht seine Herkunft. Eine Aufspaltung in eine „Zwei-Klassen-Jugendhilfe“ und eine Gewährung von Hilfen, die sich vorrangig an finanziellen Gegebenheiten orientiert, lehnen wir entschieden ab.
Zu Artikel 8 Änderungen des Asylgesetzes
Nr. 1 (§ 44) Schaffung und Unterhaltung von Aufnahmeeinrichtungen
SOS-Kinderdorf begrüßt grundsätzlich eine bundesgesetzliche Regelung zu Schutzkonzepten für Frauen und Kinder in Aufnahme- und Gemeinschaftsunterkünften. Allerdings sollten entsprechende Regelungen verbindlicher sein hinsichtlich der Entwicklung sowie der Umsetzung und Überprüfung der Schutzkonzepte.
3. Weitere Aspekte
Junge Volljährige und Careleaver
SOS-Kinderdorf bedauert es, dass die Rückkehroption, wie sie in §41 des Referentenentwurfs noch vorgesehen war, im Regierungsentwurf nun nicht mehr enthalten ist. Die Erfahrung aus unseren SOS-Einrichtungen zeigt, dass der komplexe, alle Lebensbereiche umfassende Prozess der Verselbstständigung nicht immer linear verläuft und es nach ersten gelingenden Schritten in die Selbstständigkeit (z.B. beim Übergang von der Schule in Ausbildung/Beruf) zu Einbrüchen kommen kann, die eine erneute Unterstützung nötig machen. Um die nachhaltige Wirkung der bisher geleisteten Hilfe nicht an dieser Stelle zu gefährden, ist eine entsprechende Rückkehroption nach zuvor beendeter Hilfe notwendig. Sie ist rechtlich auch nach aktuellem Recht gegeben, was in der Praxis der Leistungsgewährung aber nicht durchgängig beachtet wird. Die im RefE noch vorgesehene Regelung hätte ein wertvoller Impuls für die Praxis sein können. Im Rahmen einer weiteren SGB VIII-Reform in der nächsten Legislaturperiode sollte die Rechtsstellung von jungen Volljährigen in diesem Sinne gestärkt und die regelhafte Altersgrenze von 21 Jahren für den Hilfeanspruch heraufgesetzt werden. Außerdem sollte im Zuge einer weiteren Reform eine angemessene Unterstützung und Strukturförderung von Selbstorganisationsstrukturen, sowohl von derzeit als auch ehemals in der stationären Jugendhilfe betreuten jungen Menschen (z.B. Heimräte/Landesheimräte , Careleaver Netzwerke o.ä.) geregelt werden.
Die Empfehlung der Bundesratsausschüsse vom 23.5.2017, Hilfen für junge Volljährige als „Kann-Leistung“ statt wie bisher als „Soll-Leistung“ zu fassen, lehnt SOS-Kinderdorf entschieden ab, da sie der Stärkung der Rechtsstellung junger Volljähriger zuwiderläuft. Die Praxis zeigt, dass die Gewährung von Hilfen für junge Volljährige ohnehin schon oftmals nur nach finanziellen Erwägungen erfolgt. Bei einer entsprechenden rechtlichen Neuregelung würde die Gewährung bedarfsgerechter Hilfen noch einmal erheblich erschwert werden. Insofern begrüßen wir es, dass die Empfehlung im Bundesrat keine Mehrheit gefunden hat.
Jugend-Check
SOS-Kinderdorf hält grundsätzlich eine wirkungsvolle Gesetzesfolgenabschätzung bezüglich Aus- und Nebenwirkungen auf junge Menschen für sinnvoll. Dabei müsste sichergestellt sein, dass im Rahmen eines „Jugend-Checks“ insbesondere auch benachteiligte Kinder und Jugendliche und ihre Lebenssituation hinreichend berücksichtigt werden. Die noch im Referentenentwurf vom 17.3.2017 vorgesehene Regelung (§ 83 Abs. 2 RefE) wies aus unserer Sicht einige Unzulänglichkeiten auf, nicht zuletzt im Bezug auf die vorgesehene Altersspanne von 12 bis 27 Jahren. Den gänzlichen Wegfall einer entsprechenden Regelung im vorliegenden Gesetzentwurf bedauern wir und plädieren für einen erneuten Vorstoß in der kommenden Legislaturperiode.