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Weltfrauentag
Interview mit Prof. Dr. Sabina Schutter

Prof. Dr. Schutter im Interview zum Weltfrauentag

„Gleichberechtigung gut finden reicht nicht“

Prof. Dr. Sabina Schutter ist seit 2021 Vorstandsvorsitzende des SOS-Kinderdorf e.V. Sie verantwortet die Bereiche Einrichtungen und Regionen, Pädagogik, Repräsentanz und Advocacy. Die promovierte Soziologin ist ausgewiesene Expertin für die Kinder- und Jugendhilfe. Im Interview gibt sie Einblicke in Ihre eigenen Erfahrungen zum Thema Gleichberechtigung, welchen Herausforderungen Frauen heute noch konfrontiert sind und verrät, was sie bei SOS-Kinderdorf bewirken möchte.

Sie sind nun zwei Jahre Vorstandsvorsitzende bei SOS-Kinderdorf  – was ist ihr erstes Zwischenfazit?

Mich freut und überrascht immer wieder, wie vielfältig und berührend die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe ist. Es ist inspirierend und herausfordernd zugleich in so vielen Themenfeldern und mit so unterschiedlichen, aber stets sehr motivierten Menschen zusammen arbeiten zu dürfen! Tag für Tag sehe ich was für ein starker und innovativer Träger SOS-Kinderdorf ist. Und die Überzeugung, dass wir hier bei SOS gemeinsam viel erreichen können -  für junge Menschen und ihre Familien und  für die gesellschaftliche Teilhabe benachteiligter junger Menschen – motiviert mich immer wieder aufs Neue. Die Verantwortung zu tragen für junge Menschen und ihr Aufwachsen, für Mitarbeitende und für einen Jugendhilfeträger in dieser Größe ist eine besondere Herausforderung, die mich auch ein Stück weit demütig macht.
Ein Thema treibt mich im übrigen besonders um: Ich bin der festen Überzeugung, dass die Situation von Frauen in belasteten Lebenslagen besonders in den Blick genommen werden muss – und möchte dies als Vorstandsvorsitzende auch unbedingt vorantreiben. Ob Mädchen in der Jugendhilfe, junge Care-Leaverinnen, Alleinerziehende oder Mütter in Armutslagen - wir sehen immer wieder, dass Geschlecht nach wie vor einen großen Einfluss auf die gesellschaftliche Teilhabe hat. Und das muss sich dringend ändern!

Haben Sie sich als Frau in Ihrem beruflichen Werdegang immer gleichberechtigt behandelt gefühlt?

Ich habe 2001 mein Studium abgeschlossen und habe dann erst einmal gar nicht an eine Karriere gedacht, weil mir noch nicht klar war, was ich machen möchte. Ich habe dann in der politischen Arbeit für Familien angefangen – im Verband Alleinerziehender – und gleich gemerkt, dass hier viele meiner Interessen gefordert werden. Dort habe ich entdeckt, wofür auch mein wissenschaftliches Herz schlägt. Für Alleinerziehende ist das Thema Gleichberechtigung zentral: 90% der Alleinerziehenden sind weiblich und ihre Lebenssituation, Ungleichheiten und Pflichten sind auch Ergebnis ihrer zuvor gelebten Rollen. So hatte ich direkt intensiven Kontakt mit dem Thema Gleichberechtigung. In diesem Bereich ist mir eher wenig passiert, wo ich mich als Frau benachteiligt gefühlt hätte. Es ist aber schon so, dass man sich auch mal Sprüche anhört, die Männern so nicht gesagt werden würden. Je mehr man sichtbar wird also zum Beispiel Vorträge hält oder publiziert – so häufiger passiert das. Da stellt sich die Frage, wie man darauf reagiert. Arbeite ich mich daran ab oder reagiere ich souverän. Leide ich darunter oder mache ich es einfach trotzdem. Ich habe mich immer für das Letztere entschieden. Ich bewege mich aber auch in einem Feld, in dem ohnehin mehr Frauen in Führungspositionen beschäftigt sind und Gleichberechtigung selbstverständlicher ist.

Wie wollen Sie Frauen bei SOS-Kinderdorf, sowohl Mitarbeitende als auch Betreute, stärken?

Wir müssen bei SOS-Kinderdorf wie bei anderen Jugendhilfeträgern daran arbeiten, mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen. Die Daten zeigen nach wie vor, dass Frauen zwar zu hohen Anteilen in der Jugendhilfe arbeiten, dass sich dies aber nicht in einer entsprechenden Repräsentation in Führungspositionen abbildet. Wir müssen deshalb gezielt an Vereinbarkeit von Beruf und Familie arbeiten. Wir müssen insbesondere Frauen früh ermutigen, sich bei uns zu bewerben und auch Verantwortung zu übernehmen. Und wir müssen nach außen hin als Arbeitgeber auftreten, der sich für Gleichberechtigung einsetzt. Diese Herausforderung haben viele Jugendhilfeträger. Aber ich möchte schon, dass wir hier ein Vorbild sind und zeigen, wie das gut funktionieren kann. Wir haben zwar noch Entwicklungsbedarf, sind aber auf einem guten Weg.
Was unsere Betreuten angeht, bringen viele junge Menschen in benachteiligten Lebenslagen einen besonderen Rucksack mit. Sie trauen sich oft weniger zu, halten sich eher zurück, wenn es um Herausforderungen geht. Das gilt für jungen Frauen wie auch für junge Männer. Wir müssen also alle jungen Menschen ermutigen, ihren Weg zu gehen und sie entsprechend fördern. Besonders wichtig ist mir aber, dass wir den jungen Mädchen ein gesundes Beziehungsverständnis mitgeben: Wie stelle ich mir zukünftig Beziehung und Familie vor? Wir müssen emotionale Intelligenz fördern, damit sich junge Frauen nicht in Situationen begeben, aus denen sie vielleicht nicht so schnell wieder herauskommen. Medien und Rollenerwartungen spielen hier oft eine ungünstige Rolle, hier sollten wir aktiv entgegen wirken.

Was konnten Sie für Frauen bei SOS-Kinderdorf in den letzten zwei Jahren bereits erreichen?

Mir ist es wichtig, mich an vielen Stellen öffentlich für Gleichberechtigung und Vielfalt einzusetzen. Damit verändere ich sowohl die Wahrnehmung von SOS-Kinderdorf in der Öffentlichkeit als auch die Aufmerksamkeit für das Thema. In diesem Jahr legen wir  zum Beispiel in unserer politischen Arbeit einen Fokus auf das Thema „Mädchen in der Kinder- und Jugendhilfe“; mit dem Projekt #mädchenperspektiven sprechen wir die geschlechtsspezifische Benachteiligungen dieser Mädchen gezielt an und zeigen gegenüber Öffentlichkeit und Politik Lösungswege auf, um diese jungen Frauen besser zu fördern und gleichzustellen.
Gerade in einem frauendominierten Feld wie der Kinder- und Jugendhilfe ist es außerdem wichtig, bei Besetzungen kritisch in die Reflexion zu gehen. Denn interessanterweise bildet sich diese Geschlechterverteilung nicht in den Führungspositionen ab. Da müssen wir immer wieder kritisch hinschauen, ob vielleicht ein „unconscious bias“ am Werk ist, wir also Frauen von vorneherein nicht als gleich geeignet einschätzen. Wenn ich Gleichberechtigung will, dann muss ich bei den kleinen Dingen anfangen. 

In Ihrem Buch „Frauenrolle vorwärts“ geben Sie Frauen Tipps, wie sie Familie, Job und Finanzen unter einen Hut bekommen. Woran liegt es, dass Frauen als Mütter immer noch zu oft ihre Karriere hinten anstellen müssen?

Sie müssen es nicht – aber sie tun es. Auch heute noch wird Frauen relativ früh vermittelt, dass sie sich für Beziehung und Familienarbeit verantwortlich fühlen sollten. Oftmals wird ihnen das eben auch so vorgelebt. Und dieses Rollenverständnis wird dann schnell Teil der eigenen Identifikation. Das fängt schon an, bevor sich Frauen für Kinder entscheiden. Sie verzichten sozusagen proaktiv und im Hinblick auf eine etwaige Familiengründung auf gewisse Karriereschritte, sie machen sich im Jobumfeld nicht genügend sichtbar, scheuen risikoreiche Entscheidungen. Und natürlich begegnen Frauen auch gewissen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen; die Sozialisation, dass Frauen sich um Kinder und Familie kümmern, ist immer noch sehr präsent und es ist nicht so einfach, sich von diesem gängigen Bild zu emanzipieren. Auch Männer werden mit solchen Erwartungen konfrontiert – nur sind es bei ihnen gegenläufige Erwartungshaltungen. Das manifestiert unbewusst und früh eine klassische Rollenverteilung und führt oft dazu, dass Paare, bevor sie Kinder bekommen, keine hinreichenden Vereinbarungen zur gerechten und gleichberechtigten Aufteilung von Care-Arbeit treffen. Oder diese werden schnell obsolet, wenn die Kinder da sind. Insofern: Frauen und Mütter müssen ihre Kariere nicht hinten anstellen – aber sie tun es, aus den genannten Gründen. Und das muss sich ändern.

Wenn Frauen sich von ihrem Partner trennen und plötzlich alleinerziehend sind, sehen sie sich vor allem auch mit finanziellen Ungleichheiten konfrontiert. Was muss sich hier ändern?

Die Armut von Alleinerziehenden fängt vor dem Alleinerziehen an. Es beginnt, wenn die Frau in Teilzeit arbeitet oder bestimmte berufliche Schritte nicht geht aus Rücksicht auf die familiären Gegebenheiten. Es passiert leider auch sehr häufig, dass Akademikerinnen, wenn sie Mütter sind, unterhalb ihrer Qualifikation tätig sind. Solche Konstellationen fallen Frauen bei einer Trennung auf die Füße, denn ein geringfügig bezahlter Job reicht nicht für Alleinerziehende mit Kind. Und durch das neue Unterhaltsrecht gibt es zu wenige Möglichkeiten für andere Absicherungen; Frauen sind dann relativ schnell auf sich alleine gestellt und zu dem Zeitpunkt tritt in der Regel eine geringverdienende Situation ein oder sie leben an der Armutsschwelle. Daher plädiere ich auch in meinem Buch dafür, sich frühzeitig in einer Partnerschaft über finanzielle Dinge  zu unterhalten. Es ist zum Beispiel möglich, für solche Fälle Ausgleichszahlungen zu vereinbaren –  wenn die Frau sich für Teilzeit entscheidet, zahlt der Mann in einen Fonds ein, den die Frau im Falle einer Trennung bekommt.
Sehr bedenklich ist auch, dass Frauen, die einen Großteil ihres Berufslebens aufgrund der Kinderbetreuung in Teilzeit gearbeitet haben, im Alter weniger in die Rentenkasse eingezahlt haben. Wenn Paare mit Kindern nicht verheiratet waren, profitieren Frauen später nicht mehr vom Versorgungsausgleich. Die heute 40 bis 45-Jährigen sind die Risikogruppe, die in der Altersarmut landen könnte.

Ganz allgemein gesprochen: Wie können Eltern vor allem auch ihre Töchter stark machen?

Das Wichtigste ist, dass Eltern ihren Töchtern, aber auch Söhnen starke Vorbilder sind und innerhalb ihres Beziehungslebens reflektieren, was sie ihren Kindern vorleben. Das gilt für Mütter wie für Väter und auch für gleichgeschlechtliche Beziehungen. Und der zweite Schritt ist, dass man nicht zwingend ein Verhalten stärkt, was auf klassische geschlechtsspezifische Verhaltensweisen hindeutet. Das heißt nicht zwingend, dass man komplett kontraintuitive Erziehungsmethoden anwenden muss. Es sind eher die kleinen Dinge. Wenn zum Beispiel ein Mädchen in die Kita kommt und zuerst hört: „Was hast du denn für ein schönes Kleid an?“ Dann erlebt das Mädchen schon relativ frühzeitig, dass schöne Kleider toll sind und es wird ein Stück weit darauf reduziert. Aber genau das reicht eben später nicht mehr aus, wenn man beruflich weiterkommen will. Jungen Menschen muss man immer wieder verdeutlichen und vorleben, wie vielfältig und wie spannend Lebensentscheidungen sein können.

Und nun noch ein Ausblick: Wo sehen Sie heute noch die größten Herausforderungen für Frauen? Was muss sich dringend ändern?

Ich glaube, wir müssen uns gesellschaftlich, Männer wie Frauen, Gedanken machen, wie wir uns Beziehung, Familie, Privatleben und berufliche Entfaltung heute vorstellen. Diese Vorstellungen muss man dann auch durchziehen, auch wenn es mal unbequem ist. Ich glaube, dass das nicht nur eine Herausforderung für Frauen ist, sondern für die Gesellschaft als Ganzes. Wir alle müssen akzeptieren, dass es unterschiedliche Prioritäten in unterschiedlichen Lebensphasen geben wird. Darauf müssen sich Familien und Paare  einstellen, aber auch Arbeitgeber und die Gesellschaft als Ganzes, denn dafür braucht es noch mehr Flexibilität in der Arbeitswelt. Was nicht reichen wird, ist Kindertagesbetreuung so auszuweiten, dass wir zehn bis zwölf Stunden Betreuungstage haben. Hier geht es eher darum, die Betreuung besser aufzuteilen und flexiblere Arbeitsmodell zu finden, die sich an die jeweilige Lebensphase auch anpassen lassen. 
Auf der anderen Seite muss auch eine individuelle Veränderungsbereitschaft bei Frauen im großen Stil da sein. Wenn wir uns nur auf politische und strukturelle Veränderungen verlassen, dann wird sich auf der individuellen Verhaltensebene nicht so viel ändern. Und hier müssen Frauen ganz nachhaltig und beharrlich sagen: Wir wollen das so nicht. Wir wollen unser Stück vom Kuchen! An vielen Stellen, wenn wir uns das Gesetz für mehr Frauen in Führungspositionen und Quotenregelungen anschauen, sind wir auf einem guten Weg. Es muss aber einfach in der Masse etwas passieren, nicht nur in diesem „High-End-Segment“.
Das Thema Gleichberechtigung ist eine Art Wohlfühlthema geworden. Gleichberechtigung gut finden reicht aber nicht. Es bedeutet konkret, dass Männer Macht abgeben müssen. Und das müssen Frauen ganz klar verhandeln.