Mama Afrika: Besuch im SOS-Kinderdorf Windhoek

21. Januar 2019

Über das Leben einer SOS-Kinderdorf-Mutter in Namibia

SOS-Kinderdorf-Mitarbeiterin Mareike Spielhofen hat auf ihrer Reise nach Namibia das von SOS Kinderdorf e.V. Deutschland unterstützte Kinderdorf in Windhoek besucht. Sie brachte dabei Briefe mit Weihnachtsgrüßen von Kindern des SOS-Kinderdorfs Dießen mit. Ihre Eindrücke und Erlebnisse vor Ort schildert sie hier. 

"Ich bin neugierig, wie es in einem SOS-Kinderdorf in Namibia aussieht"

Völlig unerwartet bin ich allein mit den Kindern. Ich befinde mich in einem Besprechungsraum neben dem Eingangsbereich des SOS-Kinderdorfs Windhoek in Namibia. Ein Dutzend Jungs und Mädchen unterschiedlichen Alters umringen mich und schauen mich mit großen braunen Augen neugierig an. Schüchtern und ganz sanft klammert sich ein kleiner Junge – so ein zartes schwarzafrikanisches Kind, wie man es von Fotos aus Afrika kennt – an meinem Ellbogen fest. Etwas ältere Jungs schieben vorsichtig ihre vorwitzigen Hände zu meiner Kamera und meinem Handy auf dem langen Besprechungstisch. Automatisch mache ich einen Schritt auf sie zu und schaue sie streng an. Grinsend ziehen sie ihre Hände zurück. Ich muss schmunzeln und schaue in die Runde. „Kinder! was soll ich jetzt tun?“
Es begann alles mit der Idee, auf meiner Reise nach Namibia und Botswana das SOS-Kinderdorf in der Hauptstadt Namibias zu besuchen. Schließlich bin ich Mitarbeiterin beim SOS-Kinderdorf in Dießen, dort für die Pressearbeit zuständig und neugierig, die unterschiedlichen Facetten von SOS-Kinderdorf kennen zu lernen. Warum nicht auch in Afrika? Zumal die Einrichtung in Windhoek eine von 117 SOS-Einrichtungen weltweit ist, die direkt vom deutschen Verein unterstützt wird. 

Im Gepäck: einen Brief aus dem SOS-Kinderdorf Dießen

Als ich im Kinderdorf Dießen von meinen Plänen erzählte, erklärte sich die Dießener Familie um SOS-Kinderdorfmutter Jacqueline Niesner sofort bereit, einen Brief an die afrikanischen Kinder zu schreiben. Ich hatte also ein zusammengerolltes Papier, bunt beklebt, bemalt und beschrieben von Kindern aus Deutschland dabei – und natürlich eine Tüte voller Süßigkeiten. Mit Speck fängt man Mäuse. Die Tür des Besprechungszimmers öffnet sich wieder und weitere Kinder werden hineingeschoben. Dann bin ich wieder alleine mit den Kindern. „Welch ein Vertrauensbeweis“, wundere ich mich für einen kurzen Moment, stand doch in den mir vorher zugesandten Besuchsstatuten, dass immer ein Betreuer für die Kinder zugegen sein wird. Doch ich habe keine Zeit darüber nachzudenken.

Die Kinder staunen über das grüne Gras,  Hund Ben und über Nicolettes lange blonde Haare

Ich hole tief Luft, bitte die Kinder, sich um den Tisch zu setzen und breite das mitgebrachte Schreiben sowie die Fotos aus. Dann stelle ich mich vor, frage die Kinder nach ihren Namen und lese den Brief vor: Von Amy, die gerne in den Kindergarten geht, von Maddox, der Pfannkuchen liebt, vom Fußballspieler Jason und von Nicolette, die gerne Kinderpflegerin werden möchte. Die Kinder lauschen aufmerksam, kichern, kommentieren und beginnen von sich zu erzählen. Dass sie auch gerne Pfannkuchen essen, aber auch Maccaroni und dass sie auch Fußball lieben und gerne mit ihren Freunden spielen. Das alles unterscheidet sie nicht von den Kindern in Deutschland. Dann betrachten sie die Bilder, die ich aus dem SOS-Kinderdorf in Dießen mitgebracht habe. Sie staunen über das grüne Gras, das die Häuser umgibt, über Hund Ben und über Nicolettes lange blonde Haare. Sie fragen, wie die Kinder in Deutschland Weihnachten verbringen und ahmen nach, wie ich den Namen „Marie“ deutsch ausspreche. Ich entspanne mich, erzähle, wie die Kinder im SOS-Kinderdorf in Dießen leben und freue mich, diese Augenblicke mit den afrikanischen Kindern erleben zu dürfen. Das Eis ist gebrochen.

Ein Kind braucht eine Mutter, Geschwister, ein Zuhause und eine Dorfgemeinschaft – auch in Afrika

Später holt mich die dienstälteste Kinderdorf-Mutter ab. Sie heißt Johanna und ist 57 Jahre alt. Sie arbeitet seit 31 Jahren im SOS-Kinderdorf Windhoek und ist fast von Beginn an dabei:  Die ersten Kinder zogen hier 1985 ein, zunächst viele Waisenkinder aus dem benachbarten kriegsgeschädigten Angola, heute ausschließlich Kinder aus der Umgebung von Windhoek, meistens AIDS-Waisen. 
Johanna nimmt mich an die Hand und führt mich zu ihrem Haus. Ihr Griff ist fest und bestimmend, herzlich und warm. Ihre weiblichen Rundungen, fest eingehüllt in buntem, enganliegendem Stoff, ihre mütterlichen Gesichtszüge, ihre freundlich funkelnden Augen hinter einer Sonnenbrille und ihre einladenden Gesten rühren mich: Genau so stelle ich mir eine afrikanische Mama vor. Während wir in ihr mit hellen Ziegeln gemauertes Haus „Orchidee“ eintreten, das in einem Ensemble von Häusern rund um einen Dorfplatz steht, beginnt sie zu erzählen. Elf Familien wohnen im Dorf mit insgesamt rund 90 Kindern. Jede Familie bewohnt ihr eigenes Haus.  Das Konzept ist genauso, wie bei allen SOS-Kinderdörfern weltweit: Die Kinderdorfmutter lebt mit ihren Schützlingen, wie in einer echten Familie, in einem Haus. Die Kinder wachsen mit Geschwistern in einem Dorf auf und gehen in die örtlichen Kindergärten und Schulen. Während in Deutschland jedoch „nur“ maximal sechs Kinder von einer Mutter betreut werden, sind es hier bis zu zehn. Zusätzlich gibt es sechs Pflegerinnen, die einspringen, wenn die Mütter ihre freien Tage haben, einen Sozialarbeiter und einen Dorf-Manager.

Der Kontakt zur leiblichen Familie wird gefördert

Johanna betreut aus Altersgründen nur noch fünf Kinder – drei Jungs und zwei Mädchen. Mit Hinblick auf ihre Rente werden ihr keine Kinder mehr zugeteilt. Denn das SOS-Konzept besagt, dass die Jungen und Mädchen möglichst in einer Familie groß werden, um feste Bindung und Sicherheit zu schaffen. Bis zu ihrer Rente in drei Jahren haben ihre verbliebenen Kinder ein Alter erreicht, das ihnen erlaubt, in eine Jugendeinrichtung zu gehen. Auch diese gibt es hier auf dem Gelände. 
Im Wohnzimmer des offenen Wohnküchen- und Essbereichs läuft der Fernseher. Die drei Mädchen, die auf dem Sofa sitzen, schauen uns neugierig entgegen. Die meisten ihrer Kinder seien in den Weihnachtsferien bei ihren Familien, erzählt Johanna. Der Kontakt zur leiblichen Familie wird von SOS gefördert. Die Kinder werden ermutigt, Kontakt zu ihren Eltern, oder wenn diese verstorben sind, zu ihren Großeltern, Tanten und Onkeln oder Geschwistern zu halten. So sind auch jetzt, kurz vor Weihnachten, viele Kinder bei ihren Verwandten. „Auch wenn ich mich jetzt ein wenig ausruhen kann, vermisse ich das Leben im Haus“, bekennt die afrikanische Mama. „Ich freue mich darauf, wenn alle wieder da sind!“

Kein Beruf sondern eine Berufung

In der Zwischenzeit hat sie mich durch das Haus geführt und öffnet nun, nicht ohne Stolz, eine Tür zu einem rosaroten Prinzessinnenzimmer: rosa Gardinen mit Einhörnern und bunten Schmetterlingen werden passend ergänzt durch pinke Bettwäsche - das Reich der zwei Mädchen. Johanna erzählt, dass sie ein Budget für die Kinder hat, für Nahrung, Kleidung und sonstige Grundbedürfnisse. Die Bettwäsche und die Gardinen habe sie jedoch von ihrem eigenen Geld bezahlt. Ich spüre mit jedem ihrer Worte, wie sehr sie das SOS-Familienkonzept, das der Österreicher Hermann Gmeiner einst entwickelt hat, lebt. „Ich als SOS-Kinderdorfmutter habe die Verantwortung, ein liebevolles Zuhause für die Kinder zu schaffen.“ So umschreibt sie ihre Hauptaufgabe, die keinem Beruf, sondern vielmehr einer Berufung gleicht.
Wir gehen nach draußen. Die Mittagshitze des afrikanischen Sommers senkt sich auf uns herab. Im Schatten unter einem überdachten Tisch sitzen ein paar Kinder und winken uns fröhlich zu. Auf dem Weg kommt uns eine Frau entgegen, die offenherzig grüßt. Sie ist ebenfalls eine SOS-Kinderdorf-Mutti. „Auch wir Frauen sind hier aufgewachsen und haben viele Dinge hier gelernt“, sagt Johanna. „Wir sind uns sehr nah und kümmern uns gut umeinander, wie eine große Familie.“ Als ich mich verabschiede, umarmt sie mich herzlich. Ich winke den im Schatten sitzenden Kindern, nicke dem Pförtner zu und gehe durch das Tor hinaus auf die Straßen Windhoeks. Einen Moment fühlt es sich für mich so an, als würde ich ein schützendes Nest verlassen. Ein Gefühl, dass ich auch habe, wenn ich mich von einer SOS-Kinderdorffamilie in Dießen verabschiede.