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Lernen in den Ferien?

09. Juli 2021

„Junge Menschen haben eine sehr harte Zeit hinter sich. Home-Schooling, ausfallende Sport-und Freizeitangebote und vor allem stark eingeschränkte soziale Kontakte haben viele von ihnen sehr belastet. Sie brauchen jetzt kein Aufholprogramm, sondern müssen sich endlich nachhaltig erholen dürfen. Die Sommerferien sind allein ihre Zeit.“
Dr. Karen Silvester, Expertin für Kinderfragen bei SOS-Kinderdorf, Diplom-Pädagogin und systemische Familienberaterin.

Kräftezehrende Pandemie – auch für junge Menschen

In den letzten Wochen wurde von vielen Seiten gefordert, dass Schüler verpassten Unterrichtsstoff in den Sommerferien nachholen sollten. Auch auf Seiten der Eltern ist die Angst groß, dass der Nachwuchs im neuen Jahr den Anschluss verliert. Doch das ist gefährlich. „Nicht umsonst warnen Kinder- und Jugendärzte  aktuell vor massiven seelischen Nachwirkungen und psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen. Junge Menschen brauchen jetzt nicht noch mehr Stress und Druck“, erklärt Karen Silvester.
Denn auch für junge Menschen waren die letzten Monate der Coronapandemie kräftezehrend. Auch sie mussten auf vieles verzichten und haben unter einigen Maßnahmen gelitten, konnten keine Freunde treffen, mussten zu Hause lernen, hatten wenige Möglichkeiten der Freizeitbeschäftigung. Und gerade jetzt, nach den Lockerungen der Maßnahmen, sollten auch Kinder und Jugendliche diese neu gewonnenen Freiheiten voll auskosten dürfen und Kraft für ein neues Schuljahr tanken.

UN-Kinderrechtskonvention: Recht auf Erholung, Spiel und Freizeit

Das Recht auf Erholung, Spiel und Freizeit ist auch in der UN-Kinderrechtskonvention verankert. Diese trat am 5. April 1992 in Kraft. Immer wieder wird sie auch in Deutschland nicht vollumfänglich umgesetzt. Kinderrechte sind in Deutschland nach wie vor nicht im Grundgesetz verankert. Erst kürzlich ist ein weiterer Versuch gescheitert.
Lea Stellmacher, Vorstandsvorsitzende des Kinder- und Jugendrates von SOS-Kinderdorf und Schülerin einer 11. Klasse, plädiert dafür, dass Schüler sich in den Ferien einfach erholen können: „Ferien dienen zur Erholung und es ist dreist zu denken, Schüler könnten die Ferien nutzen, um den ganzen Stoff nachzulernen. Der Distanzunterricht war teilweise schon wirklich voller Aufgaben und Stoff. Es wurde sehr viel erwartet und die langen Bildschirmzeiten waren sehr anstrengend. Sich jetzt erneut in den Ferien vieles selber beizubringen werden viele Schüler einfach nicht schaffen, sondern erst recht daran zerbrechen.“

Kinder müssen jetzt die Herrschenden über ihre Zeit sein dürfen

Junge Menschen brauchen für eine gesunde Entwicklung dringend Phasen, in denen sie ihren ganz eigenen Rhythmus und eine eigene Struktur leben können. „Andernfalls riskieren wir bei vielen Kindern und Jugendlichen eine so genannte Pseudo-Erholung,“ warnt Silvester. Ein wichtiger Grund für psychosomatische Erkrankungen sei es, dass die Stresskurve niemals komplett abflacht und doch immer eine latente Erwartung  nach Leistung spürbar ist. „Langeweile ist in unserer Gesellschaft negativ konnotiert, aber Langeweile kann sehr fruchtbar sein – es ist ein Treiber für die kindliche Entwicklung.  Junge Menschen brauchen diese Auszeiten, um sich klar zu werden: Was will ich eigentlich? Wo stehe ich? Was ist mir wichtig? Wenn uns ihr Wohl am Herzen liegt, sollten wir ihnen diese Unbeschwertheit in den kommenden Wochen zugestehen“, erläutert die Expertin.