„Im Kinderdorf für Kinder, das ist etwas für immer.“

13. Mai 2019

Ute Menzel und Else Veit lebten als zwei der ersten SOS-Kinderdorfmütter ab Mitte der 1960er Jahre im SOS-Kinderdorf Sauerland. Jede von ihnen zog während ihrer Tätigkeit 15 Mädchen und Jungen groß und bereitete ihnen einen Weg in eine bessere Zukunft. Heute sind Ute Menzel und Else Veit 87 bzw. 85 Jahre alt und leben noch immer auf dem Gelände des SOS-Kinderdorfs Sauerland.
Wie sind Sie damals zu Ihrem Beruf als Kinderdorfmutter gekommen?
Veit: Ich war 33. Ich hatte mit einer Freundin ein Patenkind in Indien, dann sagte der Vater meiner Freundin: ‚Warum helft ihr im Ausland? In Deutschland gibt es das auch.‘ Da habe ich eine Weile überlegt, ob ich das überhaupt schaffen kann und ob es das richtige für mich ist. Ich war 15 Jahre im Büro gewesen und ich habe gedacht ‚Im Büro höre ich heute auf und morgen kennt mich kein Mensch mehr‘. Aber im Kinderdorf für Kinder, das ist etwas für immer.
Wie hat Ihre Familie auf Ihre Idee reagiert, dass Sie Kinderdorfmutter werden wollten?
Veit: Meine Mutter war erst dagegen, weil sie dann alleine gewesen wäre. Aber hinterher als ich die Kinder hatte, war sie total begeistert.
Sie haben also einfach gespürt, dass das Leben als Kinderdorfmutter das richtige für Sie ist?
Veit: Ja. Und das habe ich meiner Mutter auch gesagt. Ich habe mir allerdings erst 14 Tage Urlaub genommen, aber keinem etwas davon erzählt. In dieser Zeit bin ich hier ins Kinderdorf gegangen und habe mir gesagt ‚Ich muss mir den Betrieb erstmal angucken, ob ich das überhaupt schaffe.‘  Das hat mich dann überzeugt.
Da waren Sie, Frau Menzel, schon als Kinderdorfmutter tätig?
Menzel: Ja, ich war eine von den drei sogenannten „Urmüttern“. Am 1. März 1966 haben wir angefangen.
Und wie kamen Sie ins SOS-Kinderdorf Sauerland?
Menzel: Das war ganz anders bei mir. Ich habe vom Kinderdorf erfahren als ich in den USA war. Dort war ich fünf Jahre bei einer Familie als Erzieherin. Aber ich habe immer von Heimarbeit geträumt. Für mich war Heimarbeit die richtige Arbeit; ein Heim, wo ich immer mit Kindern zusammen bin, wollte ich. Ein Heim, wo ich ganz verantwortlich bin.
Wie haben Sie dann von den SOS-Kinderdörfern erfahren?
Menzel: Ich habe in den USA eine Wienerin kennengelernt, und der habe ich dann mal erzählt, dass ich gerne in einem Heim arbeiten wollte. Und da hat sie gesagt ‚Ja, da kenne ich was, ich kenne das SOS-Kinderdorf.‘
Das heißt, Sie sind von den USA aus direkt ins Kinderdorf gegangen?
Menzel: Zuerst habe ich mich bei der Hauptstelle von SOS in Österreich gemeldet. Und dann haben die mir geschrieben, dass es auch Kinderdörfer in Deutschland gibt. Aus den USA bin ich dann 1964 wiedergekommen und 1965 habe ich schon für drei Monate im Kinderdorf als Praktikantin angefangen. Damals war ich in Harksheide bei Hamburg. Währenddessen wurde das Kinderdorf in Lüdenscheid gerade gebaut. Und so bin ich von Harksheide direkt ins Sauerland gezogen.
Wie war das bei Ihnen, Frau Veit?
Veit: Ich bin erst in Bayern in die Schule gegangen, um meine Ausbildung zu machen. Hinterher habe ich verschiedene Praktika in Kinderdörfern gemacht und bin so ins SOS-Kinderdorf Sauerland gekommen.
Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Tag im Kinderdorf, Frau Menzel?
Menzel: Natürlich, überhaupt an die ersten Wochen. Anfangs mussten wir auch erstmal einkaufen. Es waren ja nur die Häuser da und die Kinderzimmer waren mit den Betten eingerichtet. Das Mutterzimmer hatte auch ein paar Möbel drin, mehr war da aber noch gar nicht da. Wir mussten uns erst einmal alles einrichten. Da sind wir los mit unserem Dorfmeister und haben Geschirr und alles gekauft. Ich habe dann ziemlich lange auf die ersten Kinder warten müssen. Mitte Mai, also etwa zwei Monate nach dem Einzug, kam der Anruf. Die Eltern von vier Kindern waren tödlich verunglückt. Und da war ein Säugling dabei, der war erst 10 Wochen alt.
Als Sie das erfahren haben, hatten Sie da auf einmal Angst, dass Sie der Aufgabe nicht gewachsen sind?
Menzel: Ich glaube nicht. Weil ich ja doch schon ganz schön Erfahrung hatte. Vor den USA hatte ich schon bei einer Familie gearbeitet und zudem komme ich aus einer großen Familie. Meine jüngeren Geschwister musste ich schon früher versorgen als ich selber noch ein Kind war.
Frau Veit, als Sie 1967 ins Kinderdorf gekommen sind, wie waren die ersten Tage für Sie? Ich stelle es mir als ein einschneidendes Erlebnis vor. Man zieht in ein neues Haus mit fremden Kindern, mit einer neuen Umgebung. Wie haben Sie das empfunden?
Veit: Eigentlich nicht so. Also ich bin das älteste von fünf Kindern und war dann im Krieg auch immer verantwortlich für meine Geschwister, weil mein Vater nicht aus dem Krieg zurückgekommen ist. Später habe ich dann immer mit Kindern gearbeitet. Das war für mich alles selbstverständlich.
Zuerst kamen zwei Kinder zu mir ins Kinderdorf, die aus einem Heim kamen. Und dann sollten dazu noch fünf Kinder aus Bremen kommen. Doch das hat sich verzögert, denn das Jugendamt war skeptisch, ob die Älteste mitkommen sollte. Sie sollte anfangs in ein spezielles Heim. Doch ich habe gesagt ‚Ich reiße nie Geschwister auseinander, die gehören für mich zusammen.‘
Menzel: Ja, genau für solch große Gruppen war das Kinderdorf ja da. Wer hatte nicht alles fünf, sechs, neun Kinder?! Von einer Familie meine ich. Darauf hat das Kinderdorf ja immer schon Wert gelegt. Das war ja auch das, was Hermann Gmeiner immer sagte. Diese großen Kindergruppen, die sollen zusammenblieben. Dass diese Kinder zusammenblieben, dass die Geschwister zusammenblieben, das war die Hauptangelegenheit von SOS-Kinderdorf.
Sie haben in Ihrem Beruf viele Schicksale kennengelernt. Wie haben Sie es geschafft, daran nicht zu verzweifeln?
Veit: Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Ich glaube, wir hatten auch gar keine Zeit so sehr darüber nachzudenken.
Menzel: Nein, wir hatten ja doch viel Arbeit. Wir mussten ja alles selber machen. Es gab ja damals auch noch kaum andere Erzieher oder Praktikanten oder was. Wir waren als Kinderdorfmutter alleine mit acht oder neun Kindern pro Haus.
Veit: Wir kriegten damals zwei  freie Tage im Monat.
Menzel: Aber nachher kamen dann schon mehrere Mütter-Bewerberinnen oder eben auch so eine Art Praktikanten. Das hat uns dann schon entlastet. Und heute ist es ja ganz anders mit den zusätzlichen Erzieherinnen.
Erzählen Sie mir noch etwas zur Dorfgemeinschaft.
Veit: Die Dorfgemeinschaft – die hat mir, also sie hat uns wirklich geholfen. Wir hatten jede Woche einmal Mütterrunde. Und bei diesen Runden ging es nicht nur um die Erwachsenen, sondern es ging immer um die Kinder. Also jeder wusste, wer in welchem Haus  wohnte und welche Schwierigkeiten es gab. So konnten wir uns gegenseitig stützen. Wir wussten, dass wir nicht alleine sind mit unseren Problemen.

Wie würden Sie das Verhältnis zu den Kindern beschreiben?
Veit: Ich habe nie den Anspruch erhoben, dass das meine Kinder sind. Ich habe immer gesagt, das ist unsere Familie. Für mich waren es geliehene Kinder, die ich gern hatte. Ich habe mich also nicht als ihre Mutter gesehen. Vielmehr war es meine Aufgabe, einfach für die Kinder da zu sein. Ich habe den Kindern auch immer gesagt, sie können sich aussuchen, wie sie mich nennen. Ein Mädchen hatte ich dabei, eine Vollwaisin, die hat erst eine Weile überlegt. Und dann hat sie immer gerufen: ‚Wäschst du mir den Kopf?‘. Ich war zuerst verwundert, weil sie alt genug war, um das selbst zu tun.  Aber da merkte ich, dass sie dieses Betüddeln brauchte und dabei hat sie mich dann einmal gefragt ‚Darf ich Mutti sagen?‘.
Haben Sie auch heute noch Kontakt zu den Kindern?

Menzel: Wir feiern die großen Feiern immer noch zusammen. Meinen 80. Geburtstag zum Beispiel, den haben wir alle zusammen im Gemeindezentrum gefeiert. Die Kinder, beziehungsweise heute ja Erwachsenen wissen, dass wir immer für sie da sind.
Veit: Das war bei mir auch so. Aber irgendwann wurde es mir ein bisschen viel. Am Schluss waren wir immer so viele Menschen, dass ich gar keine Zeit hatte, mit jedem zu sprechen. Und da habe ich gemerkt, ich schaffe das nicht mehr. Doch bis dahin war es sehr schön. Wirklich wie bei einer Familie. Und was mir am meisten Freude macht: Die nächste Generation, also quasi unsere Enkelkinder, sie werden zum größten Teil ganz normal groß – in einer ganz normalen Familie.
Menzel: Das stimmt. Wie viel Enkelkinder hast du?
Veit: 15 Enkel und drei Urenkel.
Menzel: Ich habe neun Enkel, aber sechs Urenkel.
Und wie viele Kinder hatten Sie?
Veit: 15.
Menzel: Ich auch.


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