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„Kinderschutz geht uns alle an“

Institutioneller Kinderschutz ist in den vergangenen Jahren immer stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Gerade in gemeinnützigen Organisationen, die sich um vorbelastete Kinder und Jugendliche kümmern, ist es zwingend notwendig, die Betreuten vor jeglicher Art von Gewalt, Grenzüberschreitungen und Übergriffen zu schützen. Wie die Einrichtungen bei SOS-Kinderdorf diese Mammutaufgabe angehen und sich dem komplexen Thema stellen, zeigen Einblicke in das Kinderschutzkonzept aus Kaiserslautern.

Praxisbeispiel Kinderschutz im SOS-Kinderdorf Kaiserslautern

Damit Kinder und Jugendliche den nötigen Schutz erfahren, der ihnen zusteht – sowohl im familiären als auch institutionellen Umfeld – hat das SOS-Kinderdorf Kaiserslautern eine Kinderschutzfachstelle geschaffen. Herzstück ist das Familienhilfezentrum im bunten Block in der Rudolf-Breitscheidstraße; eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, die seelische oder körperliche Gewalt, Vernachlässigung, sexuelle Übergriffe oder Grenzüberschreitungen erfahren haben. Sie können dort kostenlose Beratung in Anspruch nehmen. Zusätzlich gibt es eine Behandlungsstelle für Kinder und Jugendliche, die selbst sexuell übergriffig geworden sind. Michael Breiner, Bereichsleiter im Familienhilfezentrum, hat die Kinderschutzfachstelle ab 1994 gemeinsam mit der Einrichtungsleitung Heike Jockisch aufgebaut.
„Konzepte müssen gelebt und genutzt werden, sie dürfen nicht irgendwo in einer Schublade landen.“
Heike Jockisch, Einrichtungsleitung Kaiserslautern
Das Kinderdorf Kaiserslautern schützt mit dem Familienhilfezentrum Kinder und Jugendliche insbesondere vor Kindeswohlgefährdungen im familiären Kontext, aber auch am Kinderschutz in der Einrichtung selbst wird kontinuierlich gefeilt. Eine Sache wird dabei schnell ersichtlich: Kinderschutz und dafür notwendige Maßnahmen entstehen nicht von heute auf morgen, sondern die Erstellung eines funktionierenden Konzepts ist ein andauernder und ständig wachsender Prozess. „Konzepte müssen gelebt und genutzt werden, sie dürfen nicht irgendwo in einer Schublade landen“, meint Einrichtungsleitung Heike Jockisch. Kaiserslautern ist Vorreiter im Bereich Kinderschutz. Seit 2012 arbeitet die Einrichtung bereits am Handlungskonzept, vorangetrieben von Jockisch und Breiner. „Im Zuge unserer Arbeit haben wir festgestellt, dass es auch immer wieder um das Thema Übergriffe in Einrichtungen ging. Sei es unter Kindern im Kindergarten, sei es in teilstationären Einrichtungen, Übergriffe unter Betreuten, aber eben auch Verdachtsmomente, die auf Mitarbeitende gefallen sind“, erklärt Heike Jockisch.

Kinderschutz geht nur gemeinsam

Im SOS-Kinderdorf Kaiserslautern werden Kinder und Jugendliche eng von pädagogischen Fachkräften und Erziehern betreut. 18 Jugendliche leben dort in Jugendwohngruppen zusammen. Daneben werden Familien, Kinder und Jugendliche mit ambulanten Hilfen zur Erziehung, offenen Angeboten, im betreuten Einzelwohnen „LauBE“, in der Tagesgruppe Nordbahnstraße und mit Sozialarbeit an insgesamt sechs Grund-, Real- und Förderschulen unterstützt. Das Familienhilfezentrum zählt im Jahr zusätzlich rund 500 Fälle. Insgesamt beschäftigt das SOS-Kinderdorf Kaiserslautern im stationären, ambulanten und offenen Bereich knapp 70 Mitarbeitende.
„Es ist besonders schlimm, wenn bereits belastete Kinder Opfer von seelischer oder sexueller Gewalt werden. Aber Grenzüberschreitungen und Übergriffe in Institutionen kommen vor und darüber müssen wir uns im Klaren sein und uns rüsten.“
Heike Jockisch
Damit Kinderschutz funktionieren kann, müssen alle Mitarbeiter ins Boot geholt werden und nach ihren Vorstellungen, Sorgen und Wünschen befragt werden, auch der Hausmeister. Deshalb tagt im Kinderdorf Kaiserslautern einmal pro Jahr eine Mitarbeitendenversammlung, die Aspekte des Schutzkonzeptes überprüft und immer wieder neu bewertet. Wichtig sei es, das Bewusstsein unter den Mitarbeitern zu schaffen, dass solche Vorfälle von institutioneller Gewalt auch in den eigenen Reihen passieren können, erklärt Jockisch. Man dürfe die Augen davor nicht verschließen. „Es ist besonders schlimm, wenn bereits belastete Kinder Opfer von seelischer oder sexueller Gewalt werden. Aber Grenzüberschreitungen und Übergriffe in Institutionen kommen vor und darüber müssen wir uns im Klaren sein und uns rüsten. Kinderschutz geht alle an, auch den ambulanten Bereich“, erläutert die Psychologin.
Bereits bei der Entwicklung des Kinderschutzkonzepts waren alle Abteilungen und Teams vom Kinderdorf Kaiserslautern beteiligt. Folgende Fragen haben Heike Jockisch und das Leitungsteam an die Mitarbeitenden gestellt: Welche Risikosituationen gibt es in der Einrichtung und den unterschiedlichen Arbeitsbereichen? Welche Anleitungen sind hilfreich, damit Mitarbeitenden sich in solchen Situationen adäquat verhalten können? Dabei stellte sich heraus, dass die Mitarbeitenden vor allem Wert auf ein umfangreiches Beschwerdemanagement legen. Dieses wurde daraufhin über ein zertifiziertes Verfahren erstellt und u.a. in der besagten jährlichen Mitarbeitersammlung geprüft.

Beteiligung als A und O für ein funktionierendes Beschwerdemanagement

Ein Schutzkonzept kann aber natürlich nicht ohne diejenigen erstellt werden, um deren Schutz es geht. Deshalb haben die Kinder und Jugendlichen aus dem stationären Bereich im Kinderdorf Kaiserslautern ein Konzept entwickelt, dass es ihnen seit 2012 möglich macht ihre Beschwerden, ihren Unmut oder ihr Unwohlsein zu äußern. Entweder auf direktem Wege oder anonym, beispielsweise über den sogenannten Beschwerdebriefkasten. Um den Prozess lebendig zu halten, werden die vereinbarten Regeln regelmäßig auf Passung überprüft.
„Grundsätzlich muss die Haltung sein, Beschwerden – egal in welcher Form – ernst zu nehmen.“
Michael Breiner, Bereichsleiter im SOS-Familienhilfezentrum Kaiserslautern
Schriftlich oder mündlich können Kinder und Jugendliche alles loswerden, was sie bedrückt oder was nicht ordnungsgemäß verläuft – auch grenzüberschreitende Handlungen von Mitarbeitenden. So ein Beschwerdesystem kann aber nur erfolgreich sein, wenn sich die Betreuten in allen Belangen ernst genommen fühlen, weiß Michael Breiner vom Familienhilfezentrum. Gerade wenn es um schwerwiegende Themen geht, ist die Hürde sich zu öffnen höher: „Grundsätzlich muss die Haltung sein, Beschwerden – egal in welcher Form – ernst zu nehmen. Damit so ein Beschwerdeverfahren greift und sinnvoll ist, müssen auch niederschwellige Beschwerden (z.B. über Essen) beachtet werden und die Kritik der Kinder und Jugendlichen Gehör finden. Und dementsprechend wird das Verfahren auch genutzt. Wenn vorher die Haltung nicht stimmt, dann landet auch nichts im Briefkasten.“
„Wir haben für den (teil)stationären Bereich eine relativ ausgebildete Beteiligungskultur. Die jungen Menschen sind an allen Themen und Fragen, die sie betreffen, beteiligt.“
Heike Jockisch

Die Möglichkeiten sich mitzuteilen, sind für die Betreuten vielfältig. Die Jugendlichen in den Wohngruppen haben Bezugsbetreuer, an die sie sich wenden können. Zusätzlich finden jede Woche Gruppenabende statt, in deren Rahmen sie sich ebenfalls mitteilen können. Zwei der Betreuten im Kinderdorf Kaiserslautern sind außerdem im Kinder- und Jugendrat von SOS-Kinderdorf. „Wir haben für den (teil)stationären Bereich eine relativ ausgebildete Beteiligungskultur. Die jungen Menschen sind an allen Themen und Fragen, die sie betreffen, beteiligt. Im Alltag gilt: Beschweren ist erlaubt. Wir haben zudem zwei Beteiligungsmentorinnen, die versuchen das lebendig zu erhalten“, erklärt Heike Jockisch.
Die Kinder und Jugendlichen nutzen das System auch um jegliche Art von Grenzüberschreitungen zu äußern. Dabei ist das Empfinden der Kinder und Jugendlichen ganz unterschiedlich. „Unsere Betreuten beschweren sich immer wieder über das Verhalten von Betreuern. Nicht im sexualisierten Sinne, aber im grenzverletzenden Sinne“, erinnert sich Heike Jockisch. Sie beschreibt ein Beispiel: „‚Wir haben gestritten und ich bin in mein Zimmer gegangen. Der Erzieher ist mir nachgegangen und hat meine Zimmertür geöffnet und wollte das mit mir klären.“ Eine solche Situation erlebten die Jugendlichen als intrusiv, da das eigene Zimmer ein geschützter Bereich sei, sagt Jockisch. Solche Vorfälle werden in der Regel nach einem gemeinsam entwickelten Verfahren mit den Betreuen und Jugendlichen besprochen.

Was tun bei Verdachtsmomenten? Richtig handeln bei komischem Bauchgefühl

Aber auch für Mitarbeitende gibt es eine Anlaufstelle. Gemeinsam mit dem Kinderdorf Saarbrücken hat Kaiserslautern vor drei Jahren die Beratung bei Unsicherheiten zu Grenzüberschreitungen in der sozialen Arbeit (kurz BUGS) ins Leben gerufen – übergreifend für alle Einrichtungen in Deutschland. Haben SOS-Mitarbeitende ein „komisches Bauchgefühl“ oder beobachten grenzüberschreitendes Verhalten von Kolleginnen oder Kollegen, ist die Hemmschwelle groß die Führungskraft direkt zu informieren oder es herrscht Unsicherheit darüber, wie gravierend die Beobachtung tatsächlich ist. Schließlich will niemand jemanden fälschlich beschuldigen. In solchen Fällen können sich die Mitarbeitenden Rat einholen. Wer sich nicht traut die Eindrücke direkt dem oder der Vorgesetzten mitzuteilen, kann sich dort erst einmal anonym melden. „Wir geben den Mitarbeitenden Anregungen, um die Beobachtungen einordnen zu können. Liegt eine Grenzverletzung vor, ist klar geregelt, welche Schritte zu gehen sind. Dafür bleibt dann aber jeder Mitarbeitende selbst verantwortlich und ist verpflichtet entsprechend zu handeln“, erklärt Heike Jockisch. Falls die Angelegenheit nicht im Team geklärt werden kann oder das wahrgenommene Fehlverhalten kindeswohlgefährdend ist, muss der/die direkte Vorgesetzte, die Einrichtungsleitung oder, falls diese in den Fall involviert ist, die Regionalleitung informiert werden. Die Mitarbeiter haben jedoch auch die Möglichkeit sich bereits im Vorfeld zur Klärung des Sachverhalts an die übergreifende interne Anlauf- und Monitoringstelle für kindeswohlgefährdende Grenzüberschreitungen (kurz IAMst) von SOS-Kinderdorf oder an die Beratung bei Unsicherheiten zu Grenzüberschreitungen in der Sozialen Arbeit (kurz BUGS) zu wenden. Sobald die Leitung über den Fall informiert ist, ist sie für das weitere Verfahren zuständig. Bindend sind hier die SOS-eigenen „Verbindlichen Verfahrenswege bei Grenzüberschreitungen“. Dieser Notfallplan sei im Kinderdorf in Kaiserslautern bisher aber noch nicht eingetreten, da die Vorfälle immer im Dialog zwischen den Betreuten und Jugendlichen geklärt werden konnten, sagt Heike Jockisch. Zusätzlich hat das Kinderdorf Kaiserslautern ein sogenanntes Rehabilitationsverfahren entwickelt, falls die Verdächtigungen gegen Mitarbeitende sich als unbegründet herausstellen.
„Wir haben einen besonderen Schutzauftrag und sprechen das Thema Kinderschutz und Beschwerdemanagement bei jedem Bewerbungsgespräch an.“
Heike Jockisch
Das Beschwerdemanagement im Kinderdorf Kaiserslautern ist nur ein Teil des komplexen Schutzkonzeptes. Weitere Präventionsmaßnahmen erfolgen schon bei der Einstellung der  neuen Mitarbeitenden. Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer muss vor Arbeitsantritt u.a. eine sogenannte Selbstverpflichtungserklärung unterschreiben. „Wir haben einen besonderen Schutzauftrag und sprechen das Thema Kinderschutz und Beschwerdemanagement bei jedem Bewerbungsgespräch an. Natürlich wissen wir nicht, wen wir da einstellen. Die Idee ist, dass die Bewerber sehen, dass in unserer Einrichtung entsprechende Aufmerksamkeit für das Thema herrscht. Verstößt jemand gegen die Erklärung können wir sie arbeitsrechtlich gegen die Person einsetzen“, so Heike Jockisch. Mit der Erklärung stimmen die Mitarbeitenden u.a. zu, achtsam mit den Kindern und Jugendlichen umzugehen, deren individuelle Grenzen und Privat- und Intimsphäre zu respektieren und sich aktiv gegen Kindeswohlgefährdung einzusetzen. Außerdem sind Mitarbeitende verpflichtet an einem Webinar teilzunehmen. Das Online-Seminar klärt über Kindeswohlgefährdung auf und gibt einen Überblick über die aktuelle Gesetzeslage im Bereich Kinderschutz.

Prävention: Lernen über Dinge zu sprechen

Zusätzlich zum vereinsübergreifenden Webinar spielen im Kinderdorf Kaiserslautern auch Fortbildungen eine große Rolle. Seit 2012 veranstaltet die Kinderschutzfachstelle bundesweit einmal im Jahr in Zusammenarbeit mit der Personalentwicklung eine Fortbildung zu sexuellen Übergriffen in Institutionen. Das Seminar thematisiert vor allem die Prävention und den Umgang mit Grenzüberschreitungen und Übergriffen, sowohl unter Kindern und Jugendlichen als auch zwischen Mitarbeitenden und Betreuten. Die Teilnehmer lernen, wie wichtig und präventiv wirksam der Dialog und eine gute Besprechungskultur sein kann. „Zur Prävention gehört natürlich unbedingt auch die Etablierung einer Fehlerkultur in den Einrichtungen. Wir müssen schwierige Fälle oder Verunsicherungen besprechbar machen und auch offen über Dinge zu sprechen, die eigentlich sehr privat sind“, erklärt Heike Jockisch.
„Kinderschutz kann nur leben, indem alle beteiligt sind. Die Mitarbeitenden, die Führungskräfte, die Betreuten, aber auch deren Eltern."
Heike Jockisch
Zukünftig will das Kinderdorf Kaiserslautern auch noch die Eltern stärker mit einbinden. „Kinderschutz kann nur leben, indem alle beteiligt sind. Die Mitarbeitenden, die Führungskräfte, die Betreuten, aber auch deren Eltern. Wir müssen mit den Eltern über das Thema Kinderschutz in Institution ins Gespräch kommen. Sie sollen beteiligt sein und auch ein Beschwerdemanagement für Eltern nutzen können. Sie sollen das Gefühl bekommen, dass wir von ihnen gerne erfahren möchten, wenn sie mit etwas unzufrieden sind“, sagt Heike Jockisch. Institutioneller Kinderschutz bleibt weiterhin eine Herausforderung, auch im Kinderdorf in Kaiserlautern, weiß Michael Breiner: „Gerade im ambulanten Bereich gibt es weiterhin Handlungsbedarf. Der offene Umgang mit Beratungsfehlern ist wichtig, hier müssen wir eine Transparenz herstellen. Und das Thema grundsätzlich in der Einrichtung wahrnehmen und aktuell halten. Auch wenn wir ein breites Wissen haben, müssen wir immer wieder hinschauen und uns die Frage stellen: Was lernen wir aus der Vergangenheit?“