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Kinderschutz

Interview: Das Unrecht anerkennen

Über den Umgang des SOS-Kinderdorf e.V. mit grenzüberschreitendem Verhalten und sexuellen Übergriffen aus der Vergangenheit

Wie geht der SOS-Kinderdorf e.V. mit Fällen von grenzüberschreitendem Verhalten und sexuellen Übergriffen um, die in der Vergangenheit passiert sind? Welche Unterstützung bietet er den Betroffenen an, und welche Präventionsmaßnahmen gibt es? Ein Interview mit Wolfram Schneider-Arnoldi, Mitarbeiter der internen Anlauf- und Monitoringstelle des SOS-Kinderdorf e.V.
Der deutsche SOS-Kinderdorf e.V. hat seit 2010 für aktuelle und vergangene Fälle von grenzüberschreitendem Verhalten und sexuellen Übergriffen klare Ansprechpartner und Prozesse etabliert, mit denen er auf Meldungen eingeht. Der Gesetzgeber verlangt, dass Einrichtungen Kinderschutzkonzepte vorweisen. Entsprechend gibt es seit dem Jahr 2010 beim SOS-Kinderdorf e.V. unter anderem eine interne Anlauf- und Monitoringstelle, kurz IAMSt, bestehend aus drei Personen, einer Psychologin und zwei Pädagogen. Die Mitarbeitenden der IAMSt sind direkte Ansprechpartner/-innen für alle Vorkommnisse aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Sie beraten und unterstützen zum Vorgehen im Einzelfall und dokumentieren die Fälle.
“Vor dem Hintergrund der Geschehnisse in der Odenwaldschule haben wir uns systematisch mit einem vereinsweiten Kinderschutzkonzept auseinandergesetzt und dazu intensive interne Diskussionen geführt“, erinnert sich Wolfram Schneider-Arnoldi, einer der Mitarbeiter der IAMSt. „Wir hatten in den deutschen SOS-Kinderdorf-Programmen wenige sexuelle Missbräuche und keine systematische Missbrauchskultur. Gewaltanwendung kam zwar vor, denn in den 1950er- und 1960er-Jahren war die öffentliche Erziehung – anders als heute – oft von der Haltung geprägt, dass man den Kindern in Fremdunterbringung ‚die Flausen austreiben‘ müsse. Dazu kamen kriegstraumatisierte SOS-Kinderdorf-Mütter, die mit 8 bis 10 Kindern zum Teil überfordert waren. Dennoch haben sich nicht viele ehemalige Betreute bei uns gemeldet.“
Um Missbrauchsfälle und Fälle von grenzüberschreitendem Verhalten, die in der Vergangenheit passiert sind, aufzuarbeiten, hat sich der SOS-Kinderdorf e.V. an Empfehlungen orientiert, die die Bundesregierung herausgegeben hatte. Diese Empfehlungen waren am sogenannten „Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch“ entstanden, bei dem auch ehemalige Heimkinder vertreten waren.
Vom ersten Kontakt bis zur finanziellen Unterstützung
Heute finden sich auf der Website des SOS-Kinderdorf e.V. alle entsprechenden Informationen und Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme. Missbrauchsopfer und Opfer körperlicher und seelischer Gewalt melden sich meist per E-Mail, selten per Telefon, so Schneider-Arnoldi. 
„Bei der ersten Kontaktaufnahme merken wir häufig, dass die Menschen unter großem Stress stehen; sie kommunizieren daher oft recht aggressiv mit uns. Das ist natürlich sehr nachvollziehbar. Unser Anliegen ist es, diesen Menschen zu vermitteln, dass wir ihr Anliegen sehr ernst nehmen. Dann lässt der Stress meist nach, weil den Menschen die Angst genommen wird, dass wir womöglich ihre Angaben bezweifeln oder bestreiten könnten. Wir zeigen, wir sind gesprächsbereit und laden sie ein.“ Wenn die Missbrauchsopfer die Einladung zum Gespräch annehmen, werden sie von IAMSt-Mitarbeiter/-innen in der Geschäftsstelle des Vereins empfangen. Die Betroffenen können eine Begleitperson mitbringen; der SOS-Kinderdorf e.V. bezahlt Anreise und Übernachtung. „Dann reden wir“, bringt es Herr Schneider-Arnoldi auf den Punkt.
„Oft haben die Menschen, die sich bei uns melden, das Erlebte nicht gut verarbeiten können und leben, wie viele ehemalige Heimkinder, in schwierigen Lebensverhältnissen“, berichtet Schneider-Arnoldi. Therapien zahlt in Deutschland die Krankenkasse. Wenn Hilfen benötigt werden, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden, etwa Familienberatung oder ähnliche Angebote, trägt der SOS-Kinderdorf e.V. die Kosten. Oder braucht zum Beispiel jemand Unterstützung für einen Führerschein, um eine bestimmte Arbeit annehmen zu können, so kommt der SOS-Kinderdorf e.V. auch dafür auf. „Das entscheiden wir von Fall zu Fall, in Abstimmung mit dem Vorstand“, so Schneider-Arnoldi. Die IAMSt ist eine Stabsaufgabe, die direkt dem Vorstand für Pädagogik und Personal zugeordnet ist. „Wir schreiben unsere Empfehlung, der Vorstand trifft dann die Entscheidung. Das ist ein kurzer Weg, das ist wichtig.“

Das Geschehene anerkennen, das Unrecht eingestehen
Alle Opfer von Missbrauch oder grenzüberschreitendem Verhalten und sexuellen Übergriffen erhalten eine offizielle Entschuldigung. Wichtige Botschaften im direkten Gespräch sind laut Schneider-Arnoldi:
  • Ich glaube dir.
  • Das, was passiert ist, ist nicht in Ordnung.
  • Wir haben einen Fehler gemacht.
„Es ist wichtig, als Stellvertreter der Organisation zu sagen: Es war unrecht“, betont Schneider-Arnoldi. „Das ist auch die Rückmeldung von Betroffenen: Es ist wichtig für sie, dass dieses Unrecht eingestanden wird.“
Fairer und transparenter Aufarbeitungsprozess
Wenn die Betroffenen Interesse haben, stellen wir unsere aktuellen Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor und fragen, was aus ihrer Sicht noch verbesserungswürdig erscheint.
Der SOS-Kinderdorf e.V. hat außerdem einen „Fachbeirat Kinderschutz“ ins Leben gerufen, der sich jährlich trifft. Ihm gehört auch eine externe Professorin an: Mechthild Wolff von der Hochschule Landshut mit dem fachlichen Schwerpunkt Kinderschutz. „Dort sprechen wir systematisch über unser Kinderschutzkonzept“, erzählt Schneider-Arnoldi. „Wir diskutieren Fragen wie: Sind unsere Strukturen immer noch tragfähig, haben wir Schwachstellen oder blinde Flecken? Das hilft, Betriebsblindheit zu vermeiden.“
Darüber reden können
Schneider-Arnoldi erinnert sich an die Aussage eines Missbrauchsopfers: „Achtet darauf, dass Kinder aufgeklärt sind! Ich habe damals nicht verstanden, was mit mir passiert ist.“ Schneider-Arnoldi zeigt das einmal mehr, wie wichtig es ist, dass Kinder einordnen können, was mit ihnen geschieht, und dafür Worte haben. 
„Sie müssen eine Kultur vorfinden, in der sie mit Betreuern darüber reden können. Sexualerziehung ist heute selbstverständlich und in diesem Sinne Teil der Präventionsmaßnahmen“, sagt er. Wichtig ist auch die Beteiligung von Kindern, um so ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Kinder sollten informiert sein und wissen, wo sie hingehen können, um zu sagen: „Da ist etwas passiert, das mir nicht gefällt.“
Umgang mit Überforderung
Es gibt im Verein mehrere, regelmäßig stattfindende Veranstaltungen zum Thema Kinderschutz und Beteiligung. Unter anderem veranstaltet der SOS-Kinderdorf e.V. zweimal jährlich einen mehrtägigen Workshop zum Thema „Umgang mit Überforderung und Grenzüberschreitung in der pädagogischen Arbeit“ zusammen mit einer externen Kollegin. An dieser Veranstaltung nehmen regelmäßig ca. 20 Personen aus SOS-Einrichtungen teil. „Eine Art institutionelle Selbstreflexion, um Situationen von Überforderungen und Grenzüberschreitung zu reflektieren“, beschreibt Schneider-Arnoldi. „Wir bearbeiten dort auch Situationen aus dem pädagogischen Alltag. So etwas zu implementieren ist gut, weil so frühzeitig erkannt wird, wo Überforderung auftritt, die zu Grenzüberschreitungen führen kann. In diesem Rahmen diskutieren wir auch mit den Teilnehmenden, welche strukturellen und persönlichen Gründe es für Überforderungen und Grenzüberschreitungen gibt und welchen Rahmen es braucht, um diese zu verhindern.“
Präventionskultur leben
Präventionskultur will gelebt sein. Es braucht, so Schneider-Arnoldi, „eine Kultur, in der man miteinander redet und regelmäßig das eigene Verhalten gegenüber Kindern reflektiert, die schwieriges Verhalten zeigen, das einen mitunter hilflos machen kann. So lernen Mitarbeiter/-innen, ihr pädagogisches Handeln zu reflektieren und zu verstehen. Diese Reflexionen helfen auch, auf anderer Ebene mit pädagogischen Kollegen zu sprechen.“
Eine Kultur des Zuhörens und Miteinander-Sprechens ermögliche auch zu überlegen, was der Grund dafür sein kann, dass ein Übergriff passiert ist. Waren persönliche Probleme ausschlaggebend? Stimmen die Rahmenbedingungen nicht? „So kann es nicht zu struktureller Gewalt kommen“, ist sich Schneider-Arnoldi sicher. „Nur wenn wir miteinander reden, auch ein vages Unbehagen ansprechen, kann man rechtzeitig intervenieren. Unser Ziel ist es, diese Kultur der Achtsamkeit im SOS-Kinderdorfverein als Teil der Qualitätsarbeit zu verankern.“