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Aus der Organisation

„Wie geht es euch gerade?“

Im Rahmen der SOS-Längsschnittstudie wurden im Jahr 2020 betreute junge Menschen und Care-Leaver dazu befragt, wie sie ihren Corona-Alltag erleben und beurteilen.
Die Pandemie bestimmte seit März 2020 auch in der stationären Jugendhilfe große Teile des Alltags. Da viele fremduntergebrachte Kinder und Jugendliche schon Erfahrungen von Ohnmacht, Ausgeliefertsein und abgebrochenen Beziehungen gemacht haben, war diese Situation für sie und ihre Betreuungspersonen besonders herausfordernd. Um herauszufinden, wie von SOS-Kinderdorf betreute Jugendliche ihren Corona-Alltag beurteilen, erfolgte im Rahmen der laufenden SOS-Längsschnittstudie* eine Zusatzbefragung in den SOS-Einrichtungen. Die Fragebögen wurden im Mai und Juni 2020 ausgefüllt, also nach dem Lockdown in einer Phase der ersten Lockerungen. 439 Zusatzfragebögen gingen ein, damit lag die Rücklaufquote bei etwa 80 Prozent.
Erste Ergebnisse im Überblick: Die Betreuten akzeptierten die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in ähnlichem Umfang wie der Rest der Bevölkerung. Zum Verständnis und zur Akzeptanz der Situation trugen vor allem die SOS-Fachkräfte durch gezielte Aufklärungsarbeit bei: Über 80 Prozent der Jugendlichen fühlten sich von ihnen gut über die Situation informiert. Dementsprechend hielten sich die Sorgen der jungen Menschen insgesamt in Grenzen. Eher kritisch sahen sie die Auswirkungen der Pandemie auf den sozialen, schulischen und beruflichen Bereich. Besonders bedenklich ist, dass knapp die Hälfte der Jugendlichen (43,5 Prozent) negative Auswirkungen der Corona-Krise auf den eigenen Schul- oder Berufsbildungsweg befürchtet. Diese Kritik richtet sich allerdings weniger gegen die Fachkräfte als gegen strukturelle Probleme und den Rückstand bei den digitalen Unterrichts- und Kommunikationsformen.
Der Austausch via FaceTime, WhatsApp und ähnliche Angebote ersetzt auch für die Generation der Digital Natives offenbar nicht das persönliche Zusammensein. Zwar gaben viele Jugendliche an, dass sie während des Lockdowns gemeinsam mit ihren Freunden viel Zeit online verbrachten und insgesamt mehr Kontakte über soziale Medien pflegten als früher. Aber der direkte Austausch scheint doch eine andere Qualität zu haben. So fühlten sich trotz digitaler Vielfalt 36,8 Prozent der Befragten von der Umwelt abgeschnitten.
Die Corona-Maßnahmen führten auch dazu, dass mehr Zeit mit der Kinderdorffamilie/Wohngruppe und weniger mit Freunden, Freundinnen und der Herkunftsfamilie verbracht wurde. Obwohl das enge Zusammensein im stationären Lebensumfeld auch Spannungen mit sich brachte, entdeckten die Befragten zugleich positive Seiten: 33 Prozent gaben an, dass sich der Zusammenhalt verstärkt habe, und 33,4 Prozent, dass sie sich jetzt viel besser mit den Betreuungspersonen verstünden. Zu den willkommenen Effekten der Corona-Maßnahmen rechneten manche Jugendliche auch „die Ruhe im Alltag“.

Care-Leaver benennen eine Zunahme der psychischen Belastungen

Welche Auswirkungen der Pandemie nehmen Care-Leaver, also ehemals durch SOS-Kinderdorf Betreute, auf ihr Leben und ihr emotionales Wohlbefinden wahr? Dazu erfolgte, ebenfalls im Rahmen der SOS-Längsschnittstudie, im Herbst 2020 eine gesonderte Erhebung. Obwohl diese in die Zeit des beginnenden zweiten Lockdowns fiel, war die Resonanz groß: Fast alle der rund 250 Teilnehmenden beantworteten die Fragen. Zwei Drittel waren junge Frauen, das Alter lag zwischen 16 und 26 Jahren. Hier erste ausgewählte Resultate:
Viele Ergebnisse ähneln denen aus Befragungen in der Gesamtbevölkerung. Viele Care-Leaver akzeptierten die Situation und trugen sie mit. Allerdings hatten relativ viele den Eindruck, dass ihre Sorgen nicht oder nur teilweise gehört würden. Als besonders bedenklich erscheinen vor allem die von den Befragten angeführten Auswirkungen auf das seelische und emotionale Wohlbefinden sowie die psychische Belastung. Hier können die biografischen beziehungsweise bereits vorbestehenden Belastungen der Care-Leaver es erschweren, die aktuellen Einschränkungen zu bewältigen. Deshalb sollte ihnen ausreichender Zugang zu Beratung und Therapie ermöglicht werden.
* Die „SOS-Längsschnittstudie zur Handlungsbefähigung junger Menschen auf dem Weg in die Eigenständigkeit“ führt der SOS-Kinderdorfverein mit dem Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) durch.