Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind mehr als sechs Millionen Geflüchtete in den Nachbarländern angekommen, vor allem in Polen, Ungarn, Moldawien und Rumänien. In den vergangenen Monaten hat SOS-Kinderdorf an verschiedenen Orten geflüchtete Kinder und Bezugspersonen aufgenommen und untergebracht. Lyudmila gehört zu den mehr als 80 Geflüchteten, die in den SOS-Kinderdörfern in Rumänien Zuflucht gefunden haben. Die Mutter erzählt, wie sie und ihre Söhne vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind.
„Das letzte Mal habe ich meinen Mann am 24. Februar um 5:45 Uhr morgens gesehen“, sagt Lyudmila. „Er ist in der Armee. Er war im Urlaub, als der Krieg begann. In unserem kleinen Dorf im Süden der Ukraine haben wir an diesem Morgen weder die Bomben noch die Sirenen gehört. Kurz nach fünf Uhr morgens erhielt er einen Anruf. Er erklärte, dass sein Urlaub zu Ende sei und er sich zum Dienst melden müsse. In diesem Moment wusste ich, dass der Krieg begonnen hatte.“
„Es war beängstigend“
Lyudmilas älterer Sohn, der 16-jährige Iwan, und ihr 17-jähriger Neffe Olehsii, der nach dem Tod seiner Eltern in die von Lyudmila gegeben wurde, befanden sich zu diesem Zeitpunkt in ihrem Schlafsaal an einer Marineschule. „Mein Mann sagte ihnen, sie sollten packen und zum Haus unserer Verwandten fahren, wo ich und mein jüngerer Sohn Serhii sie abholen würden. Wir blieben dort etwa zehn Tage. Es war beängstigend.“
Lyudmila erklärt, dass ihre Verwandten über einen sicheren Keller verfügten, der mit Lebensmitteln, Wasser und Heizung ausgestattet war. „Aber man konnte den Geräuschen nicht entkommen“, sagt sie. „Die Erde bebte. Oft hörten wir die Alarmanlagen der Autos, die dadurch ausgelöst wurden. Es war schrecklich, die Sirenen zu hören. Aber noch schlimmer war es, wenn sie nicht ertönten und der Boden plötzlich zu beben begann.”
Auf ewig dankbar
Iwan und Olehsii halfen Lyudmila beim Beladen des Autos. „Wir sind um sieben Uhr morgens losgefahren“, erklärt Ivan. „Wir erreichten Kishinev in Moldawien um 22 Uhr.“ Die Familie blieb über Nacht in Kishinev und fuhr dann weiter nach Rumänien. „Die Menschen in Moldawien waren sehr nett und hilfsbereit, aber wir fühlten uns nicht sicher. Ich wollte meine Kinder in ein Land bringen, das Mitglied der NATO ist. Für mich bedeutet das Sicherheit“, bekräftigt Lyudmila.
Mit Hilfe von Freiwilligen vor Ort wurde die Familie für zwei Tage bei einer einheimischen Familie in Yaşi nahe der Grenze in Rumänien untergebracht. „Sie hatten ein krankes Kind, aber sie nahmen uns auf“, erzählt Lyudmila. „Wir konnten in Betten schlafen. Sie gaben uns zu essen und kümmerten sich um uns. Ich bin ihnen auf ewig dankbar. Aber wir sahen, dass wir dort nicht bleiben konnten, und fragten, ob sie jemanden kennen, der uns helfen könnte. Sie brachten uns mit Rodica in Kontakt.“
Endlich wieder gut schlafen
Rodica Marinoiu ist die Leiterin des SOS-Kinderdorfprogramms im rumänischen Bacău. Sie holte bereits persönlich zahlreiche Familien ab und brachte sie in den Häusern des SOS-Kinderdorfs Hemeiuş bei Bacău unter. „Dies ist das Mindeste, was wir tun können. Es ist unsere Pflicht als Menschen und als Organisation, zu helfen“, erklärt Rodica.
„Hier haben meine Kinder und ich zum ersten Mal seit Beginn des Krieges gut geschlafen“, sagt Lyudmila. „Im Keller meiner Verwandten schlief ich vielleicht zwei Stunden pro Nacht, wenn überhaupt. Ich versuchte, meine Kinder zum Schlafen zu bringen, aber ich wusste, dass auf jeden Fall Iwan und Olehsii wach waren. Hier schlafen wir nun mindestens fünf bis sechs Stunden pro Nacht.“
Online-Unterricht und Rumänischkurs
Ivan und Olehsii nehmen am Fernunterricht teil, aber beide sind mit dieser Lösung nicht zufrieden. „Unsere Schule ist für Online-Unterricht nicht geeignet“, sagt Ivan. „Mein Cousin und ich sind beide in der elften Klasse, dem Abschlussjahrgang. Eigentlich wollten wir uns als nächstes an der Marineuniversität einschreiben. Jetzt wissen wir nicht, was wir tun werden. Vielleicht finden wir eine andere Möglichkeit in Europa. Doch unsere erste Wahl ist immer noch eine Ausbildung an einer ukrainischen Universität.“
Olehsii fügt hinzu: „Wir nehmen beide zweimal pro Woche für zwei Stunden Rumänischunterricht. Ich kann schon ein paar Worte, aber der Unterricht geht erst eine Woche, es ist also noch nicht viel. Wir müssen die Sprache lernen, weil wir nicht wissen, wie lange wir hier bleiben werden.“
Auch Lyudmila arbeitet online. Ihr Unternehmen hält weiterhin den Betrieb aufrecht und ermöglicht ihr die Arbeit aus dem Ausland. „Das ist ein weiterer Aspekt, warum ich schätze, was SOS-Kinderdorf uns bietet. Ich kann etwas Normalität in mein Leben bringen und muss mich nicht ständig um meinen Mann sorgen.“ Lyudmila spricht täglich mit ihrem Mann. „Er lächelt immer“, sagt sie mit Tränen in den Augen. „Er beteuert immer wieder, dass alles normal ist. Ich weiß, wir alle wissen, dass es nicht so ist.“

Mutter Lyudmila mit dem achtjährigen Serhii und Hund Clifford
© SOS-Kinderdorf International / Katerina Ilievska
„Ich bin hier glücklich”
Als Lyudmilas jüngerer Sohn, der achtjährige Serhii, fragt, ob er Clifford hereinlassen darf, lockert sich die Stimmung. Clifford ist der Familienhund, ein vier Monate alter Labrador-Welpe. Lebhaft und neugierig läuft Clifford von einem zum anderen, leckt Hände ab und wedelt mit dem Schwanz. „Clifford ist hier glücklich", lächelt Serhii. „Und ich auch. Ich spiele Basketball mit Ivan und Olehsii, wir gehen spazieren und ich halte mich gerne im Garten auf. Hier kann ich den ganzen Tag mit Clifford rennen.“