Zum Warenkorb 0

Zum Warenkorb hinzugefügt:

Schutzgebühr:

Zum Warenkorb
Ksenia Semeniak
Interview

„Ich wünsche mir, dass Kinder ihre Eltern wieder umarmen können“

Der Welttag der humanitären Hilfe am 19. August ist ein Aktionstag, an dem weltweit humanitäre Helferinnen und Helfer für die Arbeit geehrt werden, die sie leisten, um das Leben von Menschen zu retten oder zu verbessern. Es sind Personen wie Ksenia Semeniak aus der Ukraine. Sie ist Koordinatorin für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung bei SOS-Kinderdorf Ukraine in Kiew. 


"Am meisten wünsche ich mir, dass Kinder und Familien aus der Ukraine in ihre Heimat zurückkehren können."

Sie beschäftigen sich mit den Themen psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung in der Ukraine. Was genau sind Ihre Aufgaben?

Ich kümmere mich vor allem um die Koordination unserer Aktivitäten. Wir haben zum Beispiel mehrere mobile psychologische Teams für Geflüchtete. Und wir veranstalten Sommer- und Tagescamps, damit Familien den Kopf frei bekommen von Krieg und Gewalt. Außerdem gehört es zu meinen Aufgaben, neue Aktivitäten zur psychischen Gesundheit von Kindern und Familien zu entwickeln und umzusetzen. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Bedürfnisse von Familien mit vom Krieg betroffenen Kindern zu analysieren und entsprechend zu reagieren. Daher sind wir sehr flexibel, um uns an die sich schnell ändernde Realität anpassen zu können.

Aus wie vielen Personen bestehen die Teams, die Sie leiten?

Derzeit aus elf Personen. Kürzlich kamen 13 Kolleginnen und Kollegen für das Sommercamp hinzu. Wir wollen außerdem noch mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen, um den Kindern der Vertriebenen und ihren Betreuungspersonen noch besser helfen zu können. Ich habe teils Kontakt zu den Begünstigten, aber natürlich arbeiten vor allem die Psychologen direkt mit den Kindern und Familien.

Diese Arbeit ist sicherlich sehr belastend. Wie gehen Sie damit um?

Ich mache viel Sport, das tut mir gut und gibt mir Kraft. Auch spazieren gehen hilft mir, um auf andere Gedanken zu kommen. Außerdem achtet SOS-Kinderdorf auch sehr auf die psychologische Betreuung seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es gibt die Möglichkeit der Supervision, Webinare und Selbsthilfegruppen. Derzeit planen wir weitere Stressmanagement-Aktivitäten für das gesamte Team.

Vor dem Krieg hatten Sie aber noch andere Aufgaben.

Ja, ich bin im März 2017 zu SOS-Kinderdorf gekommen. Meine Hauptaufgabe bestand darin, internationale Paten für die Programme von SOS-Kinderdorf Ukraine zu gewinnen. Nach der Invasion im Februar dieses Jahres wurden viele von uns mit neuen Aufgaben betraut, da wir auf die neue Realität und die Bedürfnisse reagieren mussten. Und die Themen psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung haben mich schon immer sehr interessiert.

Wie haben Sie den Beginn des Kriegs erlebt?

Ein paar Wochen vor der Invasion habe ich zusammen mit meinem Mann und Freunden Rucksäcke mit dem Nötigsten gepackt. Aber eigentlich ist man auf einen Krieg nie vorbereitet. Die ersten Tage haben wir damit verbracht, von unserer Wohnung in den Luftschutzkeller und zurück zu flüchten. Unsere Wohnung in Kiew liegt im 18. Stock, so dass es nicht immer einfach war, zum Luftschutzkeller zu kommen, wenn die Sirene zu heulen begann. Wir haben die ganze Zeit die Nachrichten verfolgt und gearbeitet. Die Arbeit half uns dabei, uns zumindest ein wenig abzulenken. Ich habe ständig SMS geschrieben und meine Eltern und Freunde angerufen, um zu wissen, ob es ihnen gut  geht.

Inwiefern sind Sie persönlich vom Krieg betroffen?

Das Leben hat sich total verändert! Das Schwierigste ist sich daran zu gewöhnen, dass man absolut nichts mehr planen kann. Vieles hängt jetzt gar nicht mehr von einem ab. Es ist schwer all das, was passiert, zu akzeptieren. Es ist sehr schmerzhaft wunderbare, tapfere Menschen zu verlieren. Zu sehen wie die Städte des eigenen Landes zerstört werden. Aber gleichzeitig ist da eine unglaubliche Mobilisierung der Gesellschaft, ein gemeinsames Verständnis dafür, für welche Werte wir kämpfen.

Wie geht es Ihren Verwandten und Freunden?

Meine Verwandten und Freunde sind im ganzen Land und im Ausland verstreut. Wir können uns nicht mehr so leicht sehen wie früher. Meine Eltern sitzen auf der Krim fest und ich weiß leider nicht, wann ich sie wieder umarmen kann.

Haben Sie jemals daran gedacht, die Ukraine zu verlassen?

Nein, ich habe das Gefühl, dass ich hier die Dinge irgendwie beeinflussen kann, auch wenn das vielleicht illusorisch sein mag. Ich glaube, es ist ein bisschen einfacher, weil ich noch keine Kinder habe, also nur für mein eigenes Leben verantwortlich bin. So kann ich mein zukünftiges Leben hier planen, ich kenne die möglichen Risiken und bin bereit, sie zu akzeptieren. Ich liebe mein Land sehr und bin sehr stolz darauf, Ukrainerin zu sein.

Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?

Meine Tage bestehen hauptsächlich aus Arbeit. Das ganze Land befindet sich in einer großen Notlage und viele Menschen brauchen jetzt Hilfe. Eher seltener treffe ich mich mit Freunden zum Kochen, manchmal reise ich geschäftlich in andere Regionen. Und eine neue Sache ist in mein Leben getreten: Fahrkenntnisse sind jetzt so wichtig wie Erste-Hilfe-Kenntnisse, also habe ich beschlossen, Fahrstunden zu nehmen.

Was wünschen Sie sich am dringendsten für die Kinder und Familien aus der Ukraine?

Am meisten wünsche ich mir, dass sie in ihre Heimat zurückkehren können. Dass sie das, was zerstört wurde, wieder aufbauen können. Ich wünsche mir, dass nahestehende Menschen und wertvolle Momente so schnell wie möglich in das Leben eines jeden Ukrainers zurückkehren. Dass Familien wieder zusammenkommen und Kinder ihre Eltern umarmen können.

Mehr zu SOS-Kinderdorf in der Ukraine