Am 14. August 2021 wurde Haiti von einem verheerenden Erdbeben getroffen. Schätzungsweise 650.000 Menschen waren auf sofortige humanitäre Hilfe angewiesen. Mehr als 137.000 Häuser und 60 Gesundheitseinrichtungen wurden beschädigt oder zerstört. Dabei litten viele Familien noch unter den Folgen des schweren Bebens von 2010, bei dem etwa 220.000 Menschen ums Leben gekommen waren. Wir haben mit der Leiterin von SOS-Kinderdorf in Haiti, Faimy Carmelle Loiseau, gesprochen. Sie beschreibt, wie SOS-Kinderdorf in den vergangenen zwölf Monaten Familien in Not geholfen hat, und spricht über die Herausforderungen, vor denen Haiti steht.
Wie ist die Situation von Kindern, Jugendlichen und Familien in den am stärksten betroffenen Gebieten ein Jahr nach dem Erdbeben?
Die Lage in den südlichen Gebieten ist immer noch besorgniserregend, obwohl SOS-Kinderdorf viele Gemeinden mit verschiedenen Maßnahmen unterstützt hat. Denn das Erdbeben hat vor allem die Menschen geschwächt, die sich bereits zuvor in einer sehr prekären Lage befunden hatten. Viele Familien leben immer noch in Notunterkünften. Es fehlen ihnen die Mittel, ihre Häuser wieder aufzubauen, und die Regierung leistet keine Unterstützung. Aufgrund einer Wirtschaftskrise und hoher Inflation sind die Lebenshaltungskosten gestiegen. Noch dazu steckt das Land in einer politischen Krise. Die Folge sind häufige Unruhen auf den Straßen. Die Bandengewalt in der Hauptstadt Port-au-Prince verhindert Reisen in den Süden, was das Leben sehr schwierig und gefährlich macht.
Mit welchen Maßnahmen hat SOS-Kinderdorf Kindern und Familien geholfen?
Nach dem Erdbeben leistete SOS-Kinderdorf psychosoziale Unterstützung, um die psychologische Aufarbeitung bei den Kindern und ihren Familien sowie ihre emotionale Erholung zu fördern. Außerdem unterstützen wir die Menschen vor Ort, indem wir Produkte von Familien aus dem Familienstärkungsprogramm kaufen und somit Kleinunternehmen unter die Arme greifen. Die Gesellschaft sensibilisieren wir durch verschiedene Kampagnen und Aktivitäten für den Kinderschutz. Unsere Schulungen haben zu einem Umdenken bei den Eltern beigetragen. Früher war es üblich, Kinder mit der Peitsche zu schlagen. Das ist in diesen Familien weniger geworden. Zudem haben wir kinderfreundliche Räume eingerichtet, in denen die Kinder essen und trinken können und wir einen sicheren Ort zum Lernen und Spielen bieten. Die Aktivitäten kommen bei den Kindern gut an und sie sind sich ihrer Rechte bewusst. Nach Aussage dieser Kinder sind ihre Eltern zunehmend toleranter und verständnisvoller geworden.
Weltweit sehen wir derzeit, dass die Preise für Lebensmittel und Energie steigen. Wie ist die Lage in Haiti?
Aufgrund der gestiegenen Preise besteht eine große Lebensmittelunsicherheit. Dies wirkt sich negativ auf das Leben von Kindern, Jugendlichen und Familien aus. Außerdem leidet Haiti seit vielen Monaten unter einem Mangel an Treibstoff. Es ist manchmal einfach unmöglich, von A nach B zu kommen, und die Menschen können ihren Tätigkeiten nicht richtig nachgehen. Zwar ist der Treibstoffpreis an den Zapfsäulen nicht wirklich gestiegen, aber da diese kein Benzin enthalten, sind die Familien gezwungen, es auf dem Schwarzmarkt zu kaufen – zu Preisen, die viermal so hoch sind wie normal. Dies destabilisiert das Land und verarmt die Bevölkerung.
Was waren die größten Herausforderungen bei der Unterstützung von Familien?
Es gab vieles, was es uns schwer machte, den vom Erdbeben betroffenen Menschen zu helfen. Die Hauptstadt Port-au-Prince ist der wichtigste Ort für Waren und Produkte. Alles ist dort konzentriert. Doch die Nationalstraße 2 von Port-au-Prince in die südlichen Departements ist durch kriminelle Banden für den Personen- und Warenverkehr blockiert. Diese Situation führte zu erheblichen Verzögerungen bei der Durchführung einiger Projektaktivitäten. Weitere Herausforderungen waren die prekäre Lage der Familien in den Zielgebieten, die Unsicherheiten im Zusammenhang mit der soziopolitischen Lage des Landes, die wiederholten Demonstrationen auf den Straßen sowie der knappe Treibstoff und der tägliche Anstieg der Inflationsrate.
Wird noch Hilfe benötigt und was plant SOS-Kinderdorf?
Ein Jahr nach dem Erdbeben wird im Süden definitiv noch Hilfe benötigt, denn dort haben sich die Lebensbedingungen nicht für alle Menschen verbessert. Das Ziel von SOS-Kinderdorf ist es, weiterhin so vielen Kindern wie möglich zu helfen, damit Familien ihre Selbstständigkeit wiedererlangen können und die Rechte der Kinder geschützt werden.