Hero Image
SOS-Hof Bockum

Der Weg in die Selbstständigkeit

Gerrit Ohls lebt seit seiner Geburt mit einer geistigen Behinderung. Der junge Mann wünscht sich ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben. Mit der Unterstützung des SOS-Hofes in Bockum ist er seinem Wunsch ein großes Stück näher gekommen.
Es ist noch früh am Morgen, als Gerrit Ohls auf sein liebstes Fahrzeug, den Traktor, steigt. Zum ersten Mal saß er mit zwölf Jahren auf einem etwas kleineren Modell seines Nachbarn und half bei der Ernte. Seitdem fasziniert ihn die Landwirtschaft. Der 29-Jährige fährt mit dem Traktor zur Biogasanlage seines Betriebs. Vor Ort befüllt er große Boxen mit organischen Abfällen, woraus die Maschine später das Gas erzeugt. Die entscheidenden Messwerte kontrolliert Gerrit Ohls am Computer. Um das System bedienen zu können, braucht es ein gutes technisches Verständnis und viel Übung. Der junge Mann ist stolz, dass ihm diese Aufgabe anvertraut wurde. Gerrit Ohls lebte acht Jahre lang auf dem SOS-Hof Bockum in Niedersachsen. Dort arbeiten und wohnen über 90 erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Die Mehrzahl lebt in Hausgemeinschaften oder Wohngruppen. Alle werden pädagogisch unterstützt und sozial und beruflich gefördert. Gerrit Ohls wagte den Sprung in die Selbstständigkeit und hat nun seit Sommer seine eigene Wohnung und wird weiterhin ambulant betreut. 

Eigenständig und zuverlässig

Nach getaner Arbeit macht sich Gerrit Ohls mit dem grünen Traktor auf den Weg zurück zum Gutshof. Seit vier Jahren ist er in dem landwirtschaftlichen Betrieb – einem Außenarbeitsplatz des SOS-Hofes in der Nachbargemeinde Barnstedt – tätig. Gerrit Ohls fährt an der Freiwilligen Feuerwehr vorbei und biegt danach in einen Feldweg ein. Jetzt sind es nur noch wenige Meter. Das gesamte Anwesen des ehemaligen Ritterguts besteht neben dem großen Herrenhaus aus weiteren Backsteingebäuden. In einer der alten Arbeiterunterkünfte hat Gerrit Ohls sein neues Zuhause gefunden. Für ihn ging ein Traum in Erfüllung: „Es ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich wollte in einer schönen Wohnung auf einem Bauernhof leben“, freut er sich. 
Gerrit Ohls kam über ein mehrwöchiges Praktikum auf den Gutshof. „Danach haben wir ihn einkassiert und hierbehalten“, lacht sein Chef Christian von Estroff. Der Vorgesetzte schätzt die Eigeninitiative und Verlässlichkeit seines Mitarbeiters. „Gerrit ist klasse. Er hat sich reingekniet und an sich selbst gearbeitet“, lobt er den 29-Jährigen. Als sein Arbeitgeber einen schweren Motorradunfall hatte, entlastete Gerrit Ohls ihn stark und half, wo er konnte. „Er hat sich Gedanken gemacht und ein entstehendes Loch ausgefüllt. Ich bin sehr dankbar“, fügt Christian von Estroff hinzu.

Tiefe Verbundenheit

Jeden Freitagnachmittag arbeitet Gerrit Ohls auf dem SOS-Hof in Bockum. Denn ganz ohne Kontakt geht es nicht. „Ich habe mich mal ein Jahr zurückgezogen, aber da fehlte doch was“, gibt er zu. Der gebürtige Niedersachse kam mit 18 Jahren nach Abschluss der Förderschule in die Einrichtung. Sein Vater war nach einem Unfall pflegebedürftig und starb, als Gerrit Ohls noch zur Schule ging. Zu seiner Mutter und seinen fünf Geschwistern hat er noch heute eine gute Bindung. Er verdankt seiner Zeit auf dem Hof viel. Anfangs war er sehr schüchtern und zurückhaltend und konnte seinen eigenen Willen nicht äußern. „Jetzt sagt er auch so, was er will“, berichtet seine ehemalige Hausmutter Riccarda Taliercio. Sie hat Gerrit Ohls sechs Jahre lang in einer Hausgemeinschaft betreut. 
Auf dem Hof arbeiten die Menschen mit Behinderung in verschiedenen Arbeitsbereichen wie beispielsweise der Gärtnerei, Käserei oder Tischlerei. Ist Gerrit Ohls vor Ort, hilft er im Arbeitsbereich Landwirtschaft aus. Chef und Vertrauensperson ist dann sein ehemaliger Hausvater Angelo Taliercio. Die beiden haben noch immer ein inniges Verhältnis zueinander. Angelo Taliercio bewundert den Einsatz seines ehemaligen Beschäftigten. „Er war immer da und immer bereit. Ich bin zufrieden“, erklärt er und klopft Gerrit Ohls auf die Schulter. „Ich auch“, fügt dieser lächelnd hinzu. 
Der 29-Jährige ist dankbar für alles, was er auf dem Hof lernen konnte. Ein Schlüsselerlebnis für seine Selbstständigkeit war für ihn der Erwerb seines Traktorführerscheins. „Das war eine intensive Zeit. Da sind wir beide an unsere Grenzen gekommen“, erinnert sich Angelo Taliercio. Gerrit Ohls wollte den Führerschein unbedingt. Die Praxis stellte für den jungen Mann kein Problem dar, die große Hürde war die theoretische Prüfung. Das disziplinierte Lernen fiel Gerrit Ohls schwer. Zudem musste er dafür mit Anfang zwanzig auf die gemeinsame Zeit mit seinen Freunden oder Computerspielen verzichten. Angelo Taliercio trieb ihn immer wieder an. Mit Erfolg – Gerrit Ohls schaffte die Prüfung und machte bald darauf sogar seinen Autoführerschein. 

Gruppenabende und Beziehungsfragen

Mit 26 verließ Gerrit Ohls die Hausgemeinschaft und zog für drei Jahre in eine betreute Wohngruppe in das wenige Kilometer entfernte Amelinghausen. Zu dieser Zeit trat er auch seinen Job auf dem Gutshof der Familie von Estroff an. Der SOS-Standort in Amelinghausen verfügt neben den Wohngruppen außerdem über einen Treffpunkt. Jeden Mittwoch finden dort Kochevents oder Gruppenabende statt. Gerrit Ohls besucht die Veranstaltungen auch heute noch gerne. Direkt neben der Wohngruppe liegt das Büro von Saskia Gelhaus-Rienecker. Sie ist Gerrit Ohls betreuende Sozialpädagogin. Die Mitarbeiterin besucht ihn mehrmals die Woche und unterstützt ihn bei Behördengängen und Facharztterminen, kauft mit ihm neue Möbel ein und hilft ihm weiterhin bei seiner individuellen Lebensplanung und der Verwirklichung seiner Ziele. Gerrit Ohls wendet sich aber auch bei persönlichen Angelegenheiten, zum Beispiel bei Fragen zur Partnerschaft, an die Pädagogin. Seine Freundin Madlen kennt Gerrit Ohls aus Bockum, sie ist dort in der Hauswirtschaft tätig. Freitags nach der Arbeit fahren die beiden gemeinsam in Gerrit Ohls Wohnung und verbringen dort das Wochenende.

Teilhabe am Gemeindeleben

Saskia Gelhaus-Rienecker hat Gerrit Ohls Fortschritte beobachtet. Früher habe er beispielsweise beim Einkaufen große Schwierigkeiten gehabt. „Er war unsicher. Er konnte es eigentlich, hatte aber Sorgen, es auch zu tun“, erinnert sie sich. Gerrit Ohls schätzt sein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben in Barnstedt. Er ist schon gut in der Gemeinde integriert. So geht er öfters in die Kneipe und ist außerdem Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr. Saskia Gelhaus-Rienecker weiß: „Gerrit hat sich schon immer nicht nur Freunde vom Hof, sondern auch andere Kontakte gewünscht.“ Sie freut sich über die positive Entwicklung durch seinen Umzug nach Barnstedt. Er frage viel weniger wegen alltäglicher Angelegenheiten, sei selbstbewusster und gehe Dinge selbstständig an. Bisher hat Gerrit Ohls alle Ziele erreicht, die er sich vorgenommen hatte. Ein Traum bleibt aber noch: „Ich würde gerne den großen Lkw-Führerschein machen“, sagt er. „Das ist noch einmal spezieller. Aber ich glaube, dass ich auch das schaffen werde“, fügt er überzeugt hinzu.  

Das sind unsere Dorfgemeinschaften

Neue Aufgaben, Ziele und Perspektiven – Arbeiten in der Dorfgemeinschaft


Ich spende