Ob Überforderung, finanzielle Sorgen oder psychische Probleme: Es gibt viele Gründe, warum Kinder zu ihrem eigenen Schutz von ihren Familien getrennt werden. Dass auch andere Lösungen möglich sind, zeigt eine ungewöhnliche Tagesgruppe des SOS-Kinderdorfs Kaiserslautern, die 2020 gegründet wurde.
Wann die Welt von Moritz*, der an Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) leidet, aus den Fugen bricht, ist für andere schwer zu ermessen. Oft reicht ein falsches Wort, eine Berührung, der Gesang eines anderen Kindes im Spielzimmer. Dann zupft der Zehnjährige gestresst an seinen Wimpern. Spielt mit seiner Brille. Oder ist kurz vorm Überkochen. Die Mitarbeitenden bei SOS-Kinderdorf kennen die Warnzeichen für eine bevorstehende Eskalation mittlerweile genau und können darauf reagieren – indem sie Moriz aufzeigen, wie er Konflikte gewaltfrei und kommunikativ lösen kann.
Das „Sozialkompetenztraining“ wirkt. Schlug Moritz früher oft um sich, trägt er Konflikte heute meistens verbal aus. Dies ist der Arbeit einer ungewöhnlichen Tagesgruppe zu verdanken, die ihn jedes Mal dabei unterstützt. Seit August 2020 wird Moritz in einem Einfamilienhaus in Kaiserslautern-Ost von Montag bis Freitag von 8 bis 18 Uhr von einem erfahrenen SOS-Kinderdorfteam betreut. Der Personalschlüssel ist mehr als doppelt so hoch wie bei einer herkömmlichen Tagesgruppe. Auch die Öffnungszeiten sind hier anders geregelt: Bis auf die Weihnachtsferien ist die Tagesgruppe durchgehend geöffnet. Denn hier werden verhaltensauffällige Grundschulkinder im Alltag begleitet, die eine sehr intensive Betreuung benötigen.
Beim gemeinsamen „Mensch-ärgere-Dich-nicht“ Spielen lernen die Kinder ihre Emotionen verbal zu äußern und Konflikte gewaltfrei auszutragen.
© SOS-Kinderdorf e.V. / Andreas Henn
Lisa will nur eins: zurück nach Hause
„Wenn sich ein Kind in der Schule sehr auffällig verhält, liegen die Ursachen oft in der Familie. Dann schaut das Jugendamt genauer hin“, sagt Volker Kugel, Bereichsleiter bei SOS-Kinderdorf. „Unsere teilstationäre Tagesgruppe macht es möglich, dass die Kinder zuhause bei ihren Eltern aufwachsen können und nicht in einer vollstationären Einrichtung. Egal, wie schlimm manche Verhältnisse sind: Das Elternhaus ist eben das Elternhaus.“
So auch für Lisa*. Das achtjährige Mädchen, das so gerne ausgelassen singt, tanzt und schauspielert, wurde vom Jugendamt von ihren Eltern getrennt und lebte zwei Jahre lang 100 Kilometer entfernt von ihrer Familie im SOS-Kinderdorf Saar. Doch die Sehnsucht nach ihrer Familie war groß. So groß, dass Lisa sich allen Regeln widersetzte und damit ihre Entlassung aus der Einrichtung provozierte. Seit Oktober letzten Jahres kann sie nun wieder zuhause leben. Ermöglicht hat dies die engmaschige Betreuung in der Tagesgruppe. „Lisa wird alles daransetzen, bei ihren Eltern zu bleiben“, sagt Steffi Schmitt, die 33-Jährige arbeitet als Sozialpädagogin im Team. „Die Tagesgruppe findet sie gut, weil sie danach nach Hause kann.“
Mit der Integrationshilfe in die Schule
Es ist 9 Uhr morgens. Lisa sitzt konzentriert in ihrer Schulklasse und schreibt auf, was die Lehrerin an die Tafel schreibt. Ein großer Fortschritt für die Zweitklässlerin mit ADHS-Diagnose. „Früher malte sie sich die Hände und die Arme voll, zeichnete Blumen in ihre Matheaufgaben oder schüttelte Apfelsaftschorlen so lange, bis sie aufplatzten“, erzählt Schmitt, die Lisa auch in die Schule begleitet. „Das passierte alles unterbewusst.“
Die 33-Jährige ist vorübergehend Lisas sogenannte Integrationshilfe. Normalerweise sitzt diese I-Hilfe direkt neben dem Kind und unterstützt es bei der Schularbeit. Doch dagegen wehrte sich Lisa. „Sie hatte Angst vor dem damit möglicherweise einhergehenden Stigma: Das ist das Kind, das es nicht alleine schafft“, sagt Schmitt. Eine andere Lösung musste her: Jetzt schlendert Schmitt aufmerksam durch den Klassenraum und bietet allen Schulkindern Unterstützung an. Nur wer genau hinsieht, merkt, dass die Sozialpädagogin ein sehr wachsames Auge auf Lisa hat.
Gut für die Grundschulkinder: klar geregelte Strukturen
Wie ein Klassenraum im Miniaturformat sieht das Arbeitszimmer der Kinder im Haus aus. Direkt an den Fenstern stehen Schreibtische. An Pinnwänden hängen Stundenpläne und Termine für Klassenarbeiten.
Was im Elternhaus oft fehlt, wird den Kindern hier geboten: klar geregelte Strukturen. Täglich gibt es ein festes Programm: Donnerstag ist Sport- und Bewegungstag. Dann wird Badminton gespielt oder es geht mit Rädern oder Rollern in den nahe gelegenen Volkspark. Auch gesunde Ernährung ist in der Tagesgruppe ein regelmäßiges Thema. Am Balkonfenster sprießen Tomatensetzlinge. Jedes Kind gießt und pflegt seine eigene Pflanze. „Sie sollen lernen, dass Lebensmittel nicht selbstverständlich sind“, sagt Volker Kugel. „Die Paprika wächst eben nicht im Penny.“
Jeden Freitag kochen die Kinder unter Anleitung gemeinsam einfache Gerichte. Zum Beispiel Nudeln mit Tomatensauce. Über dem Holzecktisch in der Küche, an dem anschließend gemeinsam gegessen wird, hängen bunte Plakate. In einer Wolke steht das Wort „Gefühle“, darum herum gruppieren sich verschiedene Emotionen wie Wut oder Angst. „Was passiert mit mir, wenn ich wütend werde?“ oder „Wie kann ich die Wut kontrollieren?“: Solche Fragen werden auch im Alltag besprochen.
Die Kinder in der Tagesgruppe kochen, spielen und lernen gemeinsam.
© SOS-Kinderdorf e.V. / Andreas Henn
Gemeinsam mit den Eltern Lösungen finden
Der regelmäßige Kontakt zu den Familien ist ein wichtiger Baustein der Tagesgruppe. Denn nicht nur die Kinder werden hier individuell gefördert, auch mit den Eltern wird in der Tagesgruppe intensiv an den Problemen zuhause gearbeitet. Moritz’ Vater stellt mittlerweile jeden Tag eine Stoppuhr. Schließlich soll sein Sohn nur maximal 1,5 Stunden täglich mit dem Tablet spielen – seine Lieblingsbeschäftigung zuhause. Auferlegt wird den Eltern dabei nichts; die Gespräche finden auf Augenhöhe statt.
Mikroabenteuer in der Natur haben den größten Lerneffekt
Mikroabenteuer in der Natur stehen in der Tagesgruppe oft auf dem Programm. Dann tollen die Kinder durch den Wald und spielen Verstecken. Auch in der Interaktion untereinander machen die Kinder Fortschritte. Doch der Weg zum Ziel ist immer noch weit.
Im Behördenjargon lautet es: Rückführung aus der Jugendhilfe in das familiäre Umfeld. Alle sechs Monate zieht das SOS-Kinderdorfteam Bilanz zum jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder; zugleich werden neue Ziele formuliert. Wenn die Kinder so weit sind, können sie die Tagesgruppe verlassen und selbstständig zuhause leben. Denn der Fokus in der Tagesgruppe lautet: immer das Bestmögliche fürs Kind herauszuholen.
* Namen zum Schutz der Personen geändert.