Wer sich für ein Leben in der Dorfgemeinschaft Hohenroth entscheidet, erfährt viel Eigenständigkeit, lässt aber auch den Alltag mit der leiblichen Familie zurück. Wie die Bewohner und ihre Familien damit umgehen und warum die Distanz die Beziehung sogar häufig stärkt, zeigt die Geschichte von Christiane.
Im Café in der Dorfgemeinschaft im bayerischen Hohenroth läuft die Kaffeemaschine und Bewohnerin und Servicekraft Christiane serviert einer jungen Frau eine Tasse Cappuccino und eine Schokonussecke. Christiane ist eine fröhliche Erscheinung. Zurzeit trägt sie besonders gerne Karohemden, heute blitzt ein bunt kariertes unter der braunen Schürze hervor. Christiane strahlt über beide Ohren, als sie die Bestellung auf den Tisch stellt. Ihre Kollegen und Freunde haben der 41-Jährigen den Spitznamen Bundeskaffeekanzlerin gegeben. „Ohne mich würde es hier nicht laufen“, sagt sie selbstbewusst mit dezent fränkischem Dialekt.
„Ich würde mit niemandem tauschen.“
Christiane, Bewohnerin SOS-Dorfgemeinschaft Hohenroth
Christiane ist eine von 163 Bewohnern mit geistiger Behinderung, die in der Dorfgemeinschaft Hohenroth arbeiten und wohnen. Die Betreuten leben in familiärer Atmosphäre mit einem Hauselternpaar in Hausgemeinschaften sowie selbstständig in kleinen Wohngemeinschaften oder eigenen Wohnungen mit ambulanter Betreuung. Ältere Menschen, die im Ruhestand sind, finden in einem 2021 fertiggestellten Zentrum ein Zuhause. Neben dem Hofladen und dem Café sind die Bewohner in zwölf Arbeitsbereichen tätig. Diese umfassen beispielsweise die Gärtnerei, Bäckerei oder Schreinerei. In der Einrichtung werden die Bewohner aber nicht nur beruflich, sondern auch gesellschaftlich integriert mit Angeboten für Freizeit, Gesundheit und Bildung.
Der Job im Café erfüllt Christiane von Kopf bis Fuß. Bereits seit 14 Jahren ist sie dort tätig. Bevor sie nach Hohenroth kam, wohnte sie zu Hause bei ihren Eltern und hatte einen klassischen Montagejob in einer Werkstatt für Behinderte. Dort merkte sie aber schnell: „Das ist nicht mein Job.“ Jetzt ist die gebürtige Fränkin froh ihrer Leidenschaft nachgehen zu können. „Ich würde mit niemandem tauschen“, sagt sie strahlend.
© SOS-Kinderdorf e.V. / Frank May
Das Band zwischen der Familie hält
Mittagspause für Christiane. Ihre Schwester ist zu Besuch gekommen. Birgit Wollbeck ist vier Jahre älter als sie. Die beiden begrüßen sich herzlich, umarmen sich innig. Die zweifache Mutter lebt im 70 Kilometer entfernten Erlenbach am Main. Mit dem Auto braucht sie etwas mehr als eine Stunde bis nach Hohenroth. Christiane und ihre Familie haben Glück. Die Verwandten anderer Bewohner wohnen häufig Hunderte Kilometer entfernt. Ihren Urlaub und freien Tage verbringt Christiane gerne bei der Familie ihrer Schwester, ihrem älteren Bruder Heiko oder ihren Eltern. Die Geschwister spazieren über das von buntem Laub bedeckte Gelände und tauschen sich über Neuigkeiten aus. Sie setzen sich auf eine kleine Holzbank unter einem der Kastanienbäume. Der Kontakt zu ihrer Familie ist Christiane sehr wichtig. Mit ihren Eltern spricht die 41-Jährige täglich. Und auch die Beziehung zu ihrer Schwester Birgit und deren Familie pflegt Christiane: „Wie sich die Kinder machen ist mir wichtig. Die zwei Großen gehen aufs Gymnasium. Da bin ich stolz.“, sagt sie. Ihre Schwester erwidert darauf: „Umgekehrt sind sie auch echt stolz auf dich. Weil du ihnen vorlebst, dass man auch mal was Neues ausprobieren soll. Und auch der Papa ist sehr stolz, weil er sieht, wie du dich hier einbringst.“ Christiane ist sichtlich berührt und lächelt verlegen.
„Bei manchen Angehörigen dauert das Loslassen mehrere Jahre.“
Katharina Distler vom pädagogischen Fachdienst
Die Welt außerhalb der Einrichtung
Für viele Bewohner bleibt die Ursprungsfamilie ein bedeutender Teil im Leben, weiß Katharina Distler vom pädagogischen Fachdienst. Sie ist Ansprechpartnerin für die Betreuten und erstellt individuelle Hilfepläne für sie. Vielen Angehörigen und Eltern falle das Loslassen schwer. „Mir hat eine Mutter einmal gesagt: ‚Wenn sie ein Kind haben, bei dem sie nicht wissen, ob es überleben wird, dann hat man am Anfang Probleme damit, es alleine über die Straße laufen zu lassen‘. Bei manchen Angehörigen dauert das Loslassen mehrere Jahre“, erklärt sie. Für Christianes Familie war es einfacher. „Es hat uns geholfen, dass der Wunsch von Christiane kam. Sie wollte es unbedingt“, erinnert sich Birgit Wollbeck. „Wir haben uns so gefreut. Es wäre Christiane gegenüber nicht fair gewesen, da sie sich zu Hause nicht so hätte entwickeln können“, erklärt die 45-Jährige. In der Dorfgemeinschaft geht Christiane vielen Hobbys nach und hat sich einen großen Freundeskreis aufgebaut. Neben Break-Dance macht sie Taekwondo, singt im Chor und spielt Theater und Musical. Bevor sie nach Hohenroth kam, hatte Christiane sich immer wieder vergeblich um Inklusion bemüht und auch ihre Freunde waren im ganzen Landkreis verstreut und schwer erreichbar.
„Ich finde unsere Beziehung wurde dadurch gestärkt.“
Birgit Wollbeck, Christianes Schwester
Entlastung für die Angehörigen
Christianes Familie ist dankbar für die Unterstützung der Dorfgemeinschaft. „Da ist meinen Eltern ein großer Stein vom Herzen gefallen. Sie wussten, dass sie die Fürsorge irgendwann nicht mehr leisten können. Und ich als Schwester kann das auch nicht alles abfangen mit Familie und Beruf“, erklärt sie. Durch Christianes Aufnahme in die Dorfgemeinschaft ist für sie, aber auch für ihre Eltern und Geschwister ein unabhängigeres und selbstständigeres Leben möglich. Birgit Wollbeck resümiert: „Ich finde unsere Beziehung wurde dadurch gestärkt. Weil wir es in der Familie besprochen haben, ob wir den Weg gehen. Und weil wir Christiane die Freiheit gegeben haben, sich hier auszuprobieren.“ Christianes Mutter konnte sich nach dem Umzug ihrer Tochter auch noch einen Traum erfüllen und eine Ausbildung zur Altenpflegerin abschließen.
Birgit Wollbeck kommt gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer eigenen Familie – wenn es die Pandemie zulässt – regelmäßig zu Veranstaltungen wie dem Adventsbasar, dem Kräutertag oder dem Jahrestreffen für Angehörige nach Hohenroth. In der Dorfgemeinschaft gibt es einen Angehörigenrat. Das Gremium ist beratend tätig und hat keine beschließende Funktion. Es besteht aus sieben Vertretern und trifft sich mehrere Male pro Jahr. Zusätzlich finden Regionaltreffen in ganz Deutschland mit den Angehörigen statt. Vorsitzender ist Bernhardt Roth. Seine Tochter lebt seit 14 Jahren in Hohenroth. „Der Angehörigenrat ist das Verbindungsglied zwischen den Angehörigen und der Dorfgemeinschaft, in erster Linie der Leitungsebene. Wir entwickeln Ideen und geben Anregungen und Impulse“, erklärt der Familienvater. Bei den Angehörigentreffen können Eltern bürokratische und rechtliche Fragen klären und selbst Fragen und Wünsche einbringen.
Alt werden in der Dorfgemeinschaft
Einmal im Jahr werden die Angehörigen in die Haus- oder Wohngemeinschaften eingeladen, in denen ihre Verwandten leben. Es gibt Kaffee und Kuchen und der Bewohnerrat, der Angehörigenrat und die Leitung präsentieren wichtige Anliegen, Projekte und Veränderungen aus Hohenroth. Mit Videos und Vorträgen wird das vergangene Jahr resümiert. Eine gute Zusammenarbeit zwischen der Einrichtung und den Angehörigen macht vieles einfacher. „Der Bewohner oder die Bewohnerin sitzt sonst zwischen den Stühlen. Wenn es da Spannungen gibt, ist das für die Person in der Mitte sehr schwer auszuhalten“, erklärt Katharina Distler vom pädagogischen Fachdienst.
„Wir haben dafür gekämpft, dass wir nicht außerhalb wohnen müssen. Das sind unsere Rechte.“
Christiane
Die beiden Schwestern setzen ihren Spaziergang fort. Birgit Wollbeck will sich das neue Zentrum für ältere Menschen mit Behinderung anschauen. Denn sie weiß, wie sehr das Projekt auch ihrer Schwester am Herzen liegt. Der Angehörigenrat hat dafür die Stiftung Hohenroth – Heimat im Alter mit initiiert. Das Anliegen der Angehörigen und der Bewohner war es, dass Menschen mit Behinderung auch im hohen Alter ihr Leben in der Dorfgemeinschaft verbringen können. Auch Christiane träumt davon: „Ich werde dort auch mal alt. Wir haben dafür gekämpft, dass wir nicht außerhalb wohnen müssen. Das sind unsere Rechte“, sagt sie bestimmt.
Christiane träumt davon in der SOS-Dorfgemeinschaft Hohenroth alt zu werden. Dafür wurde in Hohenroth ein Zentrum für Menschen mit erhöhtem Hilfebedarf gebaut. So müssen die Bewohner im Alter nicht ihr gewohntes Umfeld zurücklassen.
© SOS-Kinderdorf e.V. / Frank May