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„Kinder spiegeln oft die Ängste ihrer Eltern!“

Seit über 18 Jahren arbeitet Anisa Saed-Yonan in der Erziehungs- und Familienberatung im SOS-Kinderdorf Berlin. Die Nachfrage nach therapeutischer Beratung ist durch die Corona-Pandemie stark gestiegen. Derzeit betreut die Psychologin syrischer Herkunft über 150 Familien. Im Interview erzählt sie, mit welchen Problemen die Menschen zu kämpfen haben und was ihnen bei der Bewältigung der Krise hilft.

Frau Saed-Yonan, die Coronakrise dauert nun schon fast ein Jahr, wir sind mittlerweile im 2. Lockdown. Wie geht es Ihren Klientinnen und Klienten damit?

Anisa Saed-Yonan: Im Unterschied zur Anfangsphase der Pandemie sind die Menschen mittlerweile einfach erschöpft und frustriert. Der Lockdown verlängert sich immer wieder. Viele fragen sich, ob die Krise überhaupt irgendwann ein Ende nimmt. Mehr Menschen leiden unter Depressionen, unter Panikattacken oder Zwangsstörungen. Psychisch Vorerkrankte haben oft mit stärkeren Symptomen zu kämpfen; darunter auch alleinerziehende Mütter, die durch die Kontaktbeschränkungen sozial isoliert sind.

Leiden auch immer mehr Kinder und Jugendliche unter psychischen Problemen?

Anisa Saed-Yonan: Ja. Allerdings spiegeln junge Menschen oft die Ängste ihrer Eltern. Ich rate den Erziehenden deshalb, auch optimistisch zu sein und Kinder positiv zu motivieren. Das heißt nicht, dass man die Coronakrise beschönigen sollte. Klar ist: Besonders bei Jugendlichen steigt der Frust. Sie wohnen teilweise in beengten Verhältnissen, kommen nicht genügend raus und können ihre Freunde nicht treffen. Streit gibt es auch um Smartphones oder Laptops. Bei vielen Familien, die wir betreuen, besitzt nicht jedes Familienmitglied so ein Gerät.

Beraten Sie die Familien derzeit auch wieder aus dem Homeoffice?

Anisa Saed-Yonan: Ja, in 80 Prozent der Fälle berate ich telefonisch – teilweise sitzen auch Eltern und ihre Kinder gemeinsam rund um das Gerät zuhause. In besonders schwierigen Fällen treffe ich mich auch mit den Klienten im SOS-Kinderdorf Berlin vor Ort – natürlich mit Maske und Abstand. Ich hoffe allerdings, dass wir spätestens im Sommer wieder mit der ganz regulären Präsenzberatung beginnen können. 

Haben Sie Sorge, dass die angespannte Situation in Familien zu Gewalt führen könnte?

Anisa Saed-Yonan: Ein Jugendlicher verlor jüngst die Nerven, schmiss mit einem Gegenstand um sich und traf versehentlich seine Mutter, die mit einer Platzwunde am Kopf ins Krankenhaus musste. Doch meistens äußern sich Aggressionen eher verbal. Eine Mutter berichtete mir: „Ich erkenne meinen Sohn nicht wieder. Auf einmal beschimpft er mich.“ Vor allem das Homeschooling sorgt für Ärger in der Familie. Manche Eltern üben zu lange wiederholt Druck auf ihre Kinder aus, weil sie ihre Hausaufgaben vernachlässigen.

Was empfehlen Sie in diesen Fällen?

Anisa Saed-Yonan: Ich rate zur Deeskalation. Die Jugendlichen einfach mal wüten lassen, bis sie sich wieder beruhigt haben und danach das Gespräch suchen. Manchmal entzerrt es auch schon die Situation, wenn eine der beiden Streitparteien das Haus verlässt oder in ein anderes Zimmer geht. Oft kommt es auch nur zum Eklat, weil Eltern und Kinder einander nicht mehr richtig zuhören. Gerade in diesen Zeiten sollte man von Elternseite ein bisschen großzügiger sein, ein bisschen weicher!

Eltern haben es aber auch gerade nicht leicht. Nicht nur feste Strukturen durch Schule und Kindergarten fehlen während des Lockdowns, auch Freizeitangebote sind rar. Es fällt ja fast alles weg, was Familien entlastet. Wie kann man dem begegnen?

Anisa Saed-Yonan: Es hilft, eine Tagesstruktur zu entwerfen mit festen Ritualen. Durch richtiges Zeitmanagement können auch andere Probleme gelöst werden. Nehmen wir an, eine Familie hat fünf Kinder, kann sich aber nur einen Laptop leisten. Vielleicht schläft eines der Kinder ja gerne länger und kann auch später mit dem Gerät spielen. Bei der Zuteilung sollte es auch eine Rolle spielen, welches Kind das Gerät wann für schulische Aktivitäten benötigt. Ich bin aber auch positiv überrascht, auf welche Ideen manche Eltern selbst kommen, um sich zu entlasten. Eine Mutter hat zum Beispiel einmal die Woche einen Discoabend für alle Kinder veranstaltet. Diese Idee habe ich auch mit anderen Eltern geteilt. Tanzen ist gut für die Psyche!

Ist die Coronakrise eigentlich auch eine Zerreißprobe für Ehepaare? 

Anisa Saed-Yonan: Auf jeden Fall! Für viele Paare ist das eine sehr schwere Zeit. Einige hat die Krise jedoch vorerst wieder vereint. Sie sagen: „Jetzt sind wir für die Kinder da. Jetzt ist kein Platz für Streitereien.“ Vor der Corona-Pandemie waren sie so zerstritten, dass ich wenig Hoffnung hatte, sie würden wieder zueinander finden.

Priorität haben die Kinder. Kommen die Bedürfnisse der Erwachsenen dabei manchmal zu kurz?

Anisa Saed-Yonan: Ja, viele nehmen sich zu wenig Zeit für sich. Eine Mutter erzählte, sie komme seit vier Tagen nicht einmal mehr zum Duschen. Ich rate ihnen, mehr auf sich selbst aufzupassen und sich auch bewusst mal eine Stunde auszuklinken. Ein Bad zu nehmen, Achtsamkeitsübungen zu machen, Sport oder Yoga. Damit stärke ich auch meine eigene Resilienz.

Wie stark treiben die Menschen finanzielle Sorgen um?

Anisa Saed-Yonan: Viele meiner Klienten erhalten Unterstützung durch den Staat. Doch bei manchen geflüchteten Menschen aus Syrien, die ich betreue, steht gerade die Existenz auf dem Spiel. Sie hatten sich mit Cafés, kleinen Geschäften oder einem Restaurant selbständig gemacht. Ihre große Hoffnung, sich hier gut zu integrieren, wurde durch die Krise getrübt.

Wie ist Ihr Blick in die Zukunft? Schöpfen Sie auch Hoffnung, dass sich die Situation verbessert?

Anisa Saed-Yonan: Alle Krisen gehen irgendwann vorüber und treten dann in den Hintergrund. Das habe ich auch bei Patienten erlebt, die unter schweren Kriegstraumata litten. Hoffnung begleitet die Menschen eigentlich immer, auch in schwierigen Situationen. Und wir hoffen natürlich alle darauf, dass eine neue und auch bessere Zeit nach Corona kommen wird.

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