Obwohl Sina* erst acht Jahre alt ist, muss sie mit großen Problemen fertig werden. Sinas Mutter ist alleinerziehend und arbeitslos. Dass sie nicht arbeiten kann, hat seltsame Gründe. Lange Zeit erzählt Sina niemandem etwas. Sie schämt sich, wenn ihre Mama alle Fenster mit schwarzen Müllsäcken verklebt, weil sie Angst vor Strahlen hat. Spaziergänge unternimmt die Mutter nur, wenn es draußen dunkel ist. Manchmal kommt sie erst spät in der Nacht zurück. Dann fällt das Mädchen erleichtert in einen tiefen Schlaf.
Sina ist auf sich alleine gestellt
Sina hat gelernt, so gut sie kann für sich selbst zu sorgen. Sie geht mit dem wenigen Geld, das die Familie hat, einkaufen. Von ihrer eigenen Angst und Traurigkeit schweigt sie. Erst als sie in der Schule immer schlechter wird und im Unterricht häufig über Bauchschmerzen klagt, spricht eine Lehrerin Sina an. Da bricht es aus ihr heraus, sie kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Sie erzählt die Geschichte mit den schwarzen Fenstern. Danach hat sie Angst, nach Hause zu gehen. Sie sollte das Geheimnis doch niemandem verraten.
Mit acht Jahren musste Sina für sich und ihre Mutter alleine sorgen
© SOS-Kinderdorf e.V.
Dieses Gespräch ist Sinas Rettung. Die Lehrerin erkennt sofort, wie ernst die Situation ist. Sie berät sich mit einer Schulsozialarbeiterin von SOS-Kinderdorf, die einfühlsam vorgeht und es schafft, Sinas Mutter zu einem Gespräch in der Schule zu bewegen. Danach ist allen Beteiligten klar: Die Mutter muss ihre schwere psychische Störung behandeln lassen. Bis auf weiteres kann sie nicht allein mit Sina bleiben, denn das Mädchen braucht eine Umgebung, in der es sich sicher und umsorgt fühlt.
Ein neues Zuhause im SOS-Kinderdorf
Heute wohnt Sina in einem SOS-Kinderdorf. Sie hat eine Kinderdorfmutter und vier Kinderdorf-Geschwister. Eines dieser Geschwister, ein zehnjähriges Mädchen, hat eine ähnliche Vergangenheit wie Sina. Mit ihr über diese seltsamen Erlebnisse zu sprechen, tröstet Sina. Und natürlich sind da ihre Kinderdorfmutter und die anderen Betreuerinnen und Betreuer, die ihr im Familienalltag helfen und vor denen sie ihre Geschichte nicht verbergen muss. Am liebsten mag Sina die therapeutischen Reitstunden, die SOS-Kinderdorf für sie organisiert und bei denen sie stolz auf dem Rücken eines geduldigen Haflingers sitzt.
Wieder Kind sein dürfen
Im SOS-Kinderdorf darf Sina wieder ganz Kind sein
© 123RF / Tatiana Kostareva
Den Kontakt zu ihrer „echten Mama“ pflegt Sina weiterhin. Die Mutter ist jetzt in einer Tagesklinik, deshalb kann sie Sina an manchen Wochenenden im Kinderdorf besuchen. Wenn sie so stabil ist, dass sie für ihre Tochter sorgen kann, möchten die beiden wieder normal zusammen leben. „So wie früher, als ich klein war. Das ist unser Traum“, sagt Sina. Sinas Mutter vertraut der SOS-Kinderdorfmutter, das ist wichtig. Für ihre Heilung, aber auch für Sina, die mit ihrer Zuneigung zur Kinderdorfmutter nicht hinter dem Berg hält.
Dass ihre Mama sie trotz allem sehr liebt und die Trennung von ihr nur notgedrungen hinnimmt, weiß Sina. „Das ist, wie wenn sich einer das Bein gebrochen hat“, sagt das Mädchen: „Der möchte am liebsten auch ganz normal weiterlaufen, aber er kann nicht, bis das Bein im Gips wieder zusammen gewachsen ist.“ Ähnlich verhalte es sich mit ihrer Mutter: „Die möchte eine ganz normale Mama sein, aber sie kann nicht, weil sie krank ist. Deshalb geht sie jeden Tag in die Klinik.“
Über das Erlebte sprechen können. Verständnis finden. Wieder Kind sein. Nach schweren Zeiten kann Sina in ihrer SOS-Kinderdorffamilie Kraft schöpfen. Wie immer ihre Zukunft dann aussieht: Allein gelassen wird Sina nicht mehr.
*Name und biographische Details zum Schutz der betroffenen Personen geändert.
Eine(r) für alles: Alleinerziehende leben riskant
Fast die Hälfte der Alleinerziehenden mit zwei und mehr Kindern lebt von Hartz-IV*
Sie tragen die Hauptverantwortung für die Versorgung der Kinder und müssen gleichzeitig den Familienunterhalt erwirtschaften. Dabei machen mangelnde Betreuungsangebote eine Erwerbstätigkeit oft schwierig oder sogar unmöglich. Viele alleinerziehende Mütter und Väter in Deutschland erleben diesen Teufelskreis und sind deshalb einem stark erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt: Von den Alleinerziehenden mit mindestens einem minderjährigen Kind bezieht ein Drittel Grundsicherung nach Hartz-IV. Schaut man in Familien, in denen zwei oder mehr Kinder mit nur einem Elternteil leben, beträgt die Hilfequote sogar 48 Prozent.
Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit oder eine schwere Krankheit treffen Ein-Eltern-Familien mit doppelter Härte. Wenn eine(r) für alles zuständig ist, wächst die wirtschaftliche und soziale Verwundbarkeit einer Familie beträchtlich. Aus freien Stücken entscheiden sich deshalb die wenigsten für das Familienmodell „Alleinerziehend“. Trotzdem ist es für immer mehr Mütter und Väter in Deutschland Realität: Mehr als jede fünfte Familie mit mindestens einem minderjährigen Kind im Haushalt ist inzwischen eine Ein-Eltern-Familie.
*Alle Daten aus: Juliane Achatz in: Grünbuch soziale Teilhabe in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 2016.