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Wenn Eltern psychisch krank sind

Wenn Eltern an einer psychischen Erkrankung leiden, belastet das auch ihre Kinder. Andrea Soujon, systemische Familienberaterin im Treffpunkt Blomberg des SOS-Kinderdorfs Lippe und systemische Kinder- und Jugendlichentherapeutin, berichtet über die Folgen für die Kinder und wie betroffene Familien einen Weg aus der Krise finden können. 

Welche Folgen hat es für Kinder, wenn Eltern psychisch krank sind?

Kinder, die mit psychisch belasteten Eltern aufwachsen, haben ein sehr hohes Entwicklungsrisiko. Das heißt, sie werden sich aller Voraussicht nach nicht so entwickeln wie Gleichaltrige, die diesem Risiko nicht ausgesetzt sind. Kinder reagieren auf die psychische Erkrankung eines Elternteils selbst mit Auffälligkeiten wie Konzentrationsstörungen, geringerem Schulerfolg, depressiven Verstimmungen oder aggressivem Verhalten, weil ihre Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden. Die Auswirkungen können je nach Kind aber sehr unterschiedlich sein. Manche Kinder haben eine gute Resilienz, obwohl sie schwierigen Belastungen ausgesetzt sind. Das bedeutet, dass sie die guten Dinge, die sie erleben, zu etwas Großem machen. Was nicht gut war, fällt für sie nicht so stark ins Gewicht. 

Wie nehmen die Kinder die Erkrankung der Eltern wahr? 

Eltern mit psychischen Belastungen sind stark ambivalent. Die Kinder können ihre Eltern dementsprechend nicht einschätzen. Eine banale Kleinigkeit kann eskalieren. Wenn dem Kind zum Beispiel ein Glas herunterfällt, kann es passieren, dass der betroffene Elternteil plötzlich seine Aggressionen nicht mehr kontrollieren kann oder handgreiflich wird. Diese Kinder können sich häufig nicht an konkreten Werten orientieren. Sie wissen nicht, was in Ordnung ist und was nicht. Denn das Verhalten des Elternteils kann am nächsten Tag schon wieder ganz anders aussehen.
Eltern, die psychisch krank sind, haben mehr als genug damit zu tun, selbst irgendwie zurechtzukommen. Da bleiben kaum Kapazitäten für die Kinder. Sie können sich nicht mehr gut um ihre Kinder kümmern. Kinder erkrankter Eltern erleben deshalb häufig ein Desinteresse. Da ist es auf einmal egal, ob das Kind um acht oder zwölf ins Bett geht. Es fehlt oft auch die Struktur in solchen Familien. Es gibt kein Frühstück oder nicht genügend zum Mittag- oder Abendessen. Die betroffenen Kinder müssen sich dann irgendwie selbst organisieren.

Psychische Krankheiten sind also häufig Auslöser für die Vernachlässigung von Kindern? 

Ja, definitiv. Chronische Depressionen beispielsweise gehen oft einher mit Alkohol- oder anderen Suchterkrankungen. Eltern lieben ihre Kinder; aber wer erkrankt ist, kann seine Familie einfach nicht mehr gut versorgen. 

Wie wirkt sich die Vernachlässigung auf die Kinder aus?

Es passiert oft, dass die ältesten Kinder in die elterliche Rolle schlüpfen und in die Verantwortung gehen. Das nennt man Parentifizierung. Die Kinder sind in der Regel maßlos überfordert damit. Sie schauen nach den kleineren Geschwistern, organisieren Essen und stellen auch sicher, dass die Probleme nach außen nicht sichtbar werden. Sie setzen ganz viel daran, dass niemand etwas mitbekommt. Das klappt aber natürlich nicht immer. Wenn zu Hause keiner wäscht oder auf Hygiene achtet, wird die Vernachlässigung im fortgeschrittenen Stadium sichtbar. 

Welche Anzeichen bei Kindern deuten auf Vernachlässigung hin? 

Hellhörig sollte man immer werden, wenn es Veränderungen gibt. Wenn ein Kind vorher lebendig und offen war und es sich auf einmal zurückzieht, nicht mehr spricht oder ein ungewöhnliches Verhalten zeigt. Und dann merkt man es natürlich auch am Erscheinungsbild des Kindes, wie seine Verfassung ist: Wenn das Kind ungepflegt ist, es kein Essen dabei hat oder es nicht wettergemäß angezogen ist – im Winter also zum Beispiel ohne Socken in die Schule kommt. Das sind Alarmsignale dafür, dass sich zu Hause niemand darum kümmert. Ein weiteres Indiz für Vernachlässigung ist, wenn Kinder extrem anhänglich werden. Wenn das Kind auf einmal auf dem Schoß sitzt, obwohl man es gerade erst kennengelernt hat. Oder wenn man merkt, dass das Kind einfach ganz viel Zuneigung und Aufmerksamkeit braucht. Da ist es wichtig, noch einmal genauer hinzuschauen. 

Wie kann die Familie den Weg aus der Krise finden? 

Wenn die Eltern Hilfe zulassen, schauen wir, zu was sie bereit sind. Manche lassen eher praktische Hilfe zu, andere haben Gesprächsbedarf. Wir schauen, was nötig und was möglich ist und versuchen die Familien zu mobilisieren. Dafür bieten wir stützende Angebote in unserem Familienzentrum an. Dort findet zum Beispiel ein offener Treff statt, bei dem die Familien zum Kaffee und Austausch kommen können. Oder sie können beispielsweise das Mutter-Kind-Turnen oder die internationale Eltern-Kind-Gruppe besuchen – je nachdem, was zur Familie passt. Wir müssen die Familien aus ihrem Rückzug holen, damit sie sich langsam öffnen und auch wieder Dinge unternehmen und andere Menschen treffen. Das ist sehr angstbesetzt bei diesen Familien, da sie wissen, dass sie manches nicht so gut schaffen wie andere.
Auch eine Therapie kommt infrage. Dort kann man klären, wie die Familie in die Situation gekommen ist und womit sie sich überfordert fühlt. In so einem Fall schauen wir erst einmal, was in der ambulanten Beratung zu schaffen ist oder ob ein Arztbesuch oder Klinikaufenthalt nötig ist. 
Zudem bieten wir ambulante Hilfen an. Ein Familienhelfer oder eine Familienhelferin besucht die Familie mehrmals die Woche und unterstützt die Eltern unter anderem bei der Versorgung der Kinder. Sie schauen beispielsweise darauf, dass wirklich eingekauft wird und das Mittagessen auf dem Tisch steht. Sie helfen der Familie beim Umgang mit Geld, gehen gemeinsam zum Amt und stellen Anträge. Sie erledigen immer alles mit der Familie zusammen, damit diese wieder in bestimmte Strukturen zurückfindet und selbst Verantwortung übernimmt. Wichtig ist es zudem, die Eltern-Kind-Beziehung zu besprechen. Was wünscht sich das Kind? Was können die Eltern leisten? Da die Eltern sicherlich nicht allen Bedürfnissen des Kindes gerecht werden können, wird nach Ressourcen im Umfeld geschaut. Manchmal kann eine Nachbarin, eine Tante oder der Opa etwas übernehmen.
 

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