Hunderttausende Menschen haben ihre Heimat in der Ukraine verlassen und den Weg nach Deutschland gefunden. SOS-Kinderdorf Berlin unterstützt die Geflüchteten psychologisch in der Erziehungs- und Familienberatung. Was bewegt die Familien, Frauen und Kinder bei ihrer Ankunft? Und wie kann SOS-Kinderdorf ihnen den Start erleichtern? Ein Gespräch mit Hélène Pintier, interkulturelle Pädagogin und Familientherapeutin, und Stephan Ulrich, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, vom SOS-Kinderdorf Berlin.
Mit welchen Anliegen kommen die geflüchteten Menschen aus der Ukraine zu Ihnen?
Pintier: Die Beratung geht gerade erst los, die Geflüchteten müssen erst einmal ankommen und existenzielle Fragen klären, bevor sie überhaupt daran denken, psychische Beratung in Anspruch zu nehmen. Ich gehe davon aus, dass die Nachfrage im Laufe der Zeit größer wird. Die Menschen, die bis jetzt gekommen sind, sind ziemlich früh geflüchtet und haben nicht so viele Kriegshandlungen vor Ort erlebt. Nichtsdestotrotz bleibt die Sorge um die Menschen, die sie zurückgelassen haben. Das ist auf jeden Fall ein großes Thema. Die Bilder aus Butscha haben auch noch einmal etwas in ihnen ausgelöst und sie sehr beschäftigt.
Ulrich: Die Menschen, mit denen wir vorrangig zu tun haben, gehörten zu den ersten Geflüchteten. Sie haben möglicherweise Luftangriffe erlebt, mussten aber kein Kampfgeschehen im engeren Sinne mitansehen. Insofern sind sie durch die Notwendigkeit der Flucht belastet, aber nicht so sehr traumatisiert durch Erlebnisse, die sie beobachten mussten. Das wird anders sein bei den Menschen, die jetzt erst kommen.
Pintier: Was ich auch in der Beratung bemerkt habe, ist die Tatsache, dass die Coronakrise große Auswirkungen hatte. In den letzten zwei Jahren waren die Verhältnisse sowieso relativ instabil bei vielen Menschen. Es gab bereits existenzielle Fragen, vieles war sehr unsicher. Die Resilienz war schon ganz schön angegriffen. Jetzt trifft der Krieg auch noch auf diese Verhältnisse, es fällt alles auseinander und es entsteht ein großes Gefühl von Hoffnungslosigkeit.

Hélène Pintier, Interkulturelle Pädagogin und Familientherapeutin SOS-Kinderdorf Berlin
© SOS-Kinderdorf e.V.
Spielt das Gefühl von Schuld auch eine große Rolle bei den Geflüchteten?
Pintier: Ja, auf jeden Fall. Das Schuldgefühl, geflüchtet zu sein und die Frage, ob es richtig war, die anderen alleine zu lassen, habe ich in der Beratung oft gehört. Aber auch Sorgen darüber, wer denn nun in der Ukraine bleibt und das Land wieder aufbaut, wenn alle Menschen fliehen. Und gleichzeitig verspüren die Geflüchteten den Druck, sich hier etwas aufzubauen: Wenn ich geflüchtet bin, dann muss ich zumindest auch so schnell wie möglich etwas daraus machen. Aber andererseits ist Fuß fassen auch schwierig und ich glaube, es ist auch zu früh. Aber der Druck ist da. Dieser Zwiespalt ist wirklich sehr präsent. Schuld und Druck. Je mehr Zeit vergeht, desto schwerer wird diese Last der Schuld. Wofür bin ich eigentlich weg und wozu hab ich geliebte Menschen in der Ukraine alleine gelassen? Was leiste ich hier überhaupt und wie kann es auch den Menschen dort zugutekommen? Die Beratung ist manchmal auch eine Art Entschleuniger, eine Erlaubnis, sich Zeit zu nehmen und anzukommen.
Was vermitteln Sie Menschen, die Schuldgefühle haben?
Pintier: Das ist sehr individuell. Als systemische Therapeutin gehe ich davon aus, dass die Schuld auch eine Funktion hat und hilft, sich nicht so ausgeliefert zu fühlen. Es geht nicht unbedingt darum, das Schuldgefühl sofort zu beseitigen. Ich erkläre, dass es normal ist, sich in der Situation schuldig zu fühlen, auch wenn es nicht berechtigt ist. Um das Gefühl zu lindern, ist es schon eine Hilfe, sich klar zu machen, wer sich alles darüber freut, dass man in Sicherheit ist. Und meistens hilft es auch, diesen Gefühlen überhaupt einen Raum zu geben und die Möglichkeit, sie zu artikulieren.
Wie unterscheiden sich die Sorgen der Kinder und Jugendlichen von denen der Erwachsenen?
Ulrich: Für die Kinder sind die Eltern die zentralen Ankerpunkte. Wenn diese dabei sind, ist eine neue Situation noch eher zu bewältigen.. 2015 und in den Folgejahren, als viele unbegleitete Kinder gekommen sind, war das beispielsweise eine ganz andere Situation. Es deutet sich aber an, dass vor allem immer mehr Jugendliche alleine aus der Ukraine kommen werden.
Pintier: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Menschen, die alleine hierhergekommen sind und Familien mit Kindern. Bei Eltern ist der Drang, eine Struktur für ihre Kinder zu schaffen, die funktioniert, viel höher. Das hilft in erster Linie den Kindern, die Verantwortung für Struktur und Alltag gibt aber auch den Eltern Halt. Für Menschen, die alleine sind, ist es schwieriger. Wie bei jedem Trauma und jeder Krise ist es das Beste, erst einmal eine Struktur zu schaffen und einen Alltag zu haben. Gerade für die Kinder ist das wirklich sehr, sehr wichtig.

Stephan Ulrich, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut SOS-Kinderdorf Berlin
© SOS-Kinderdorf e.V.
Was brauchen die Geflüchteten am ehesten momentan?
Ulrich: Eine klare Perspektive, die es ihnen nicht abverlangt, sich in wenigen Wochen wieder völlig neu zu orientieren.. Je schneller klar ist, dass sie hierbleiben können, desto besser ist auch die Prognose für eine Integration und die Möglichkeit zur Bewältigung traumatischer Erlebnisse. Sie brauchen eine schnelle und verbindliche Regelung. Je komplizierter es ist und je mehr Abbrüche stattfinden, desto schwieriger ist es vor allem für die Kinder. Wenn sie jetzt hier ankommen, Kontakte herstellen und diese dann wieder abreißen, ist das natürlich ein Problem.
Pintier: Es ist wirklich wichtig, ein stabiles Umfeld anzubieten, das hat vielen Geflüchteten in der Vergangenheit gefehlt. Da hat oft eine zweite Art von Traumatisierung im neuen Land stattgefunden. Das ist genau das, was man vermeiden sollte.