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Gruppenbild der Bewohner der Dorfgemeinschaft Hohenroth
Selbstbestimmtes Leben trotz Behinderung

Eine starke Gemeinschaft

Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen erhalten in den drei Dorfgemeinschaften von SOS-Kinderdorf in Hohenroth, Bockum und Grimmen-Hohenwieden ein liebevolles Zuhause und einen für sie passenden Arbeitsplatz. Eine Geschichte über zwei Bewohner, die auch mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen. 

Im Café in der Dorfgemeinschaft im bayerischen Hohenroth serviert Bewohnerin und Servicekraft Christiane einer jungen Frau eine Tasse Cappuccino und eine Schokonussecke. Christiane ist eine fröhliche Erscheinung. Sie strahlt über beide Ohren, als sie die Bestellung auf den Tisch stellt. Ihre Kollegen und Freunde haben der 42-Jährigen den Spitznamen „Bundeskaffeekanzlerin“ gegeben. „Ohne mich würde es hier nicht laufen“, sagt sie selbstbewusst. 

„Ich würde mit niemandem tauschen.“

Christiane

Christiane serviert Kaffee und Kuchen im Café

Christiane hat ihren Traumjob im Café gefunden. Sie schätzt die Nähe zu den Menschen und begeistert die Besucher mit ihrer offenen Art.

Christiane ist eine von 163 Bewohnern mit geistiger Behinderung, die in der Dorfgemeinschaft arbeiten und wohnen. Die Betreuten leben in familiärer Atmosphäre mit einem Hauselternpaar in Hausgemeinschaften, selbstständig in kleinen WGs oder in eigenen Wohnungen mit ambulanter Betreuung. Ältere Menschen, die im Ruhestand sind, finden in einem 2021 fertiggestellten Zentrum ein Zuhause. Die Bewohner sind in zwölf Arbeitsbereichen tätig, dazu zählen unter anderem die Gärtnerei, Bäckerei, Schreinerei und das Café. In der Einrichtung werden die Bewohner aber nicht nur beruflich, sondern auch gesellschaftlich integriert mit Angeboten für Freizeit, Gesundheit und Bildung. 

Der Job im Café erfüllt Christiane von Kopf bis Fuß. Bereits seit 14 Jahren ist sie dort angestellt. Bevor sie nach Hohenroth kam, wohnte sie zu Hause bei ihren Eltern und hatte einen klassischen Montagejob in einer Werkstatt für Behinderte. Dort merkte sie aber schnell: „Das ist nicht mein Job.“ Jetzt ist die gebürtige Fränkin froh, ihrer Leidenschaft nachgehen zu können. „Ich würde mit niemandem tauschen“, erklärt sie bestimmt. 

Eigenständig und glücklich   

400 Kilometer Richtung Norden steigt Gerrit auf sein liebstes Fahrzeug, den Traktor. Zum ersten Mal saß er mit zwölf Jahren auf einem etwas kleineren Modell seines Nachbarn und half bei der Ernte. Seitdem fasziniert ihn die Landwirtschaft. Der 31-Jährige fährt mit dem Traktor zur Biogasanlage seines Betriebs. Vor Ort befüllt er große Boxen mit organischen Abfällen, woraus die Maschine später das Gas erzeugt. Die entscheidenden Messwerte kontrolliert Gerrit am Computer. Um das System bedienen zu können, braucht es ein gutes technisches Verständnis und viel Übung. Der junge Mann ist stolz, dass ihm diese Aufgabe anvertraut wurde.

Gerrit lebte acht Jahre lang auf dem SOS-Hof Bockum in Niedersachsen. Dort arbeiten und wohnen über 90 erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Gerrit wagte den Sprung in die Selbstständigkeit und hat nun seine eigene Wohnung, wird aber weiterhin ambulant betreut. Seit vier Jahren ist er in einem landwirtschaftlichen Betrieb in der Nachbargemeinde Barnstedt tätig. Dort hat Gerrit auch sein neues Zuhause gefunden. Für ihn ging ein Traum in Erfüllung: „Es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte“. 

Gerrit Ohls steht vor einem Traktor auf dem Feld

Seit Gerrit 12 ist, fasziniert ihn die Landwirtschaft.

Nicht ohne SOS-Kinderdorf

Jeden Freitagnachmittag arbeitet Gerrit auf dem SOS-Hof in Bockum. Denn ganz ohne Kontakt geht es nicht. „Ich habe mich mal ein Jahr zurückgezogen, aber da fehlte doch was“, gibt er zu. Der gebürtige Niedersachse kam mit 18 Jahren nach Abschluss der Förderschule in die Einrichtung. Sein Vater war nach einem Unfall pflegebedürftig und starb, als Gerrit noch zur Schule ging. Zu seiner Mutter und seinen fünf Geschwistern hat er noch heute eine gute Bindung. Er verdankt seiner Zeit auf dem Hof viel. Anfangs war er sehr schüchtern und konnte seinen eigenen Willen nicht äußern. „Jetzt sagt er auch so, was er will“, berichtet seine ehemalige Hausmutter Riccarda Taliercio. Ist Gerrit vor Ort, hilft er in der Landwirtschaft aus. Chef ist dann sein ehemaliger Hausvater Angelo Taliercio. Die beiden haben noch immer ein inniges Verhältnis. Taliercio bewundert den Einsatz seines Schützlings. „Er war immer da und immer bereit. Ich bin zufrieden“, erklärt er und klopft Gerrit auf die Schulter. „Ich auch“, fügt dieser lächelnd hinzu. 

Der 31-jährige Gerrit ist dankbar für alles, was er auf dem Hof lernen konnte. Ein Schlüsselerlebnis war für ihn der Erwerb seines Traktorführerscheins. „Das war eine intensive Zeit. Da sind wir beide an unsere Grenzen gekommen“, erinnert sich Angelo Taliercio. Die Praxis stellte für den jungen Mann kein Problem dar, die große Hürde war die theoretische Prüfung. Das disziplinierte Lernen fiel Gerrit schwer. Angelo Taliercio trieb ihn immer wieder an. Mit Erfolg – Gerrit bestand die Prüfung und machte bald darauf sogar seinen Autoführerschein. 

Gerrit Ohls mit Hausvater Angelo Taliercio bei den Kühen

Gerrit Ohls mit Hausvater Angelo Taliercio.

Das Band zwischen der Familie hält 

„Wir haben uns so gefreut. Zu Hause hätte sie sich nicht so entwickeln können.“

Birgit Wollbeck, Christianes ältere Schwester

Christiane und ihre Schwester sitzen gemeinsam auf einer Bank

Ihre ältere Schwester Birgit zählt für Christiane zu den wichtigsten Menschen

Mittagspause für Christiane in Hohenroth. Ihre Schwester Birgit Wollbeck ist zu Besuch gekommen. Der Kontakt zu ihrer Familie ist Christiane sehr wichtig. Für viele Bewohner bleibt die Ursprungsfamilie ein bedeutender Teil im Leben, weiß Katharina Distler vom pädagogischen Fachdienst. Vielen Angehörigen und Eltern falle das Loslassen schwer. „Bei manchen dauert das Loslassen mehrere Jahre“, erklärt sie. Für Christianes Familie war es einfacher. „Es hat uns geholfen, dass der Wunsch von Christiane kam. Sie wollte es unbedingt“, erinnert sich Birgit Wollbeck. „Wir haben uns so gefreut. Zu Hause hätte sie sich nicht so entwickeln können.“ Bevor sie nach Hohenroth kam, hatte Christiane sich immer wieder vergeblich um Inklusion bemüht. In der Dorfgemeinschaft geht sie nun vielen Hobbys nach und hat sich einen großen Freundeskreis aufgebaut. Sie macht Taekwondo, singt im Chor und spielt Theater und Musical. 

Christianes Familie ist dankbar für die Unterstützung der Dorfgemeinschaft. „Da ist meinen Eltern ein großer Stein vom Herzen gefallen. Sie wussten, dass sie die Fürsorge irgendwann nicht mehr leisten können. Und ich als Schwester kann das auch nicht alles abfangen mit Familie und Beruf“, erklärt die vier Jahre ältere Schwester. Durch Christianes Aufnahme in die Dorfgemeinschaft ist für die gesamte Familie ein unabhängigeres und selbstständigeres Leben möglich. „Ich finde unsere Beziehung wurde dadurch gestärkt“, erzählt Birgit Wollbeck. 

Christiane im Hofladen

Struktur im Alltag ist für die Bewohner wichtig. Diese finden sie bei ihren Tätigkeiten in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen, wie z. B. dem Hofladen.

Große Pläne für die Zukunft

Mit 26 verließ Gerrit die Hausgemeinschaft des SOS-Hofs in Bockum und zog für drei Jahre in eine betreute Wohngruppe im Nachbarort, heute kommt er gut in seiner eigenen Wohnung zurecht. Sozialpädagogin Saskia Gelhaus-Rienecker besucht Gerrit mehrmals die Woche und unterstützt ihn bei Behördengängen und Facharztterminen, kauft mit ihm neue Möbel und hilft ihm bei der Lebensplanung und der Verwirklichung seiner Ziele. Die SOS-Mitarbeiterin beobachtet Gerrits Fortschritte. Früher habe er beispielsweise beim Einkaufen große Schwierigkeiten gehabt. „Er war unsicher. Er konnte es eigentlich, hatte aber Angst, es auch zu tun“, erinnert sie sich. Gerrit schätzt sein selbstbestimmtes Leben in Barnstedt und ist gut in der Gemeinde integriert. Er geht gerne in die Dorfkneipe und ist außerdem Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr. Bisher hat der junge Mann fast all seine Ziele erreicht, nur ein Traum bleibt noch: „Ich würde gerne den großen Lkw-Führerschein machen“, sagt er. „Das ist nochmal spezieller. Aber ich glaube, dass ich auch das schaffen werde“, fügt er hinzu. 

In der Dorfgemeinschaft in Hohenroth macht Christiane mit ihrer Schwestern ein Spaziergang zum Zentrum für ältere Menschen mit Behinderung. „Ich werde dort auch mal alt. Wir haben dafür gekämpft, dass wir nicht außerhalb wohnen müssen. Das sind unsere Rechte“, sagt sie bestimmt.

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