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Interview mit Jeremias Thiel

„Ich will der Armut in Deutschland ein Gesicht geben!"

Der Vater depressiv, die Mutter spielsüchtig – mit nur elf Jahren meldete sich Jeremias Thiel beim Jugendamt und bat darum, aus seiner Familie geholt zu werden. Heute studiert er in den USA und hat ein Buch darüber geschrieben, wie es sich anfühlt, in Deutschland in Armut aufzuwachsen.

Herr Thiel, viele Menschen, die in Armut aufgewachsen sind, schämen sich dafür und verstecken sich. Sie hingegen gehen offen damit um und haben jetzt sogar eine Autobiografie veröffentlicht. Warum?

Mit dem Buch möchte ich nicht nur meine Geschichte erzählen, sondern die vieler Menschen und Kinder in Deutschland. Ich will die Stimme für die Ungehörten sein – und zeigen, wie normal Armut hierzulande ist. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die Erwerbsarmut in Deutschland hat sich zwischen 2004 und 2014 fast verdoppelt. Allein im Jahr 2018 kamen andererseits 253.000 Millionäre hinzu. Wir leben in Parallelgesellschaften. Es findet eine regelrechte Ghettoisierung von Armen statt – und Chancengerechtigkeit ist in erster Linie Wunschdenken, nicht die Realität.

Was bedeutet es, in Armut aufzuwachsen?

Meine Eltern sind schon immer arbeitslos und leben von Hartz IV. Ich hatte nur ein Paar Schuhe – und Käsefüße, bis ich mit elf Jahren zu SOS-Kinderdorf kam. Im Kommunionunterricht habe ich mich in ein Mädchen verschossen – und mich für meine stinkenden Füße geschämt. Ich war Flaschen sammeln, um mir neue Schuhe kaufen zu können. Armut zeigt sich aber auch in fehlender Privatsphäre und wenig oder schlechtem Essen. Ich hatte keinen Rückzugsort, musste mir ein Zimmer mit meinem Bruder teilen – und bekam Fritten zum Essen.

In einem Kapitel des Buches beschreiben Sie, was Armut mit der Seele macht. Was hat es mit Ihrer gemacht?

Viele denken: Wer arm ist, hat weniger zu essen – doch damit allein ist es nicht getan. Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, verarmen auch emotional. In meinem Fall bedeutet das, dass es mir schwerfällt, Emotionen zuzulassen – weil ich das mit Schwäche zeigen verbinde. Ich musste schon früh funktionieren, habe die Verantwortung für meine Eltern und für meinen Bruder übernommen. Die Rollen hatten sich vertauscht. Ich war der Erwachsene, musste stark sein, um irgendwie die Familie zusammenzuhalten. Das ging nur, indem ich meine Emotionen unterdrückt habe.

Wie hat sich Ihr Leben durch den Auszug verändert?

Mit 16 hatte ich mich für das United World College in Freiburg beworben – mit einem Stipendium des UWC und auch dank Zuschüssen der SOS-Kinderdorf Stiftung konnte ich hier meinen international anerkannten Schulabschluss machen. Seit Sommer 2019 studiere ich mithilfe eines Vollstipendiums der Uni am St. Olaf College in Minnesota/USA Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre. Wäre ich bei meiner Familie geblieben, wäre das nicht denkbar gewesen. Es war mein großes Glück, dass ich zu SOS-Kinderdorf kam und Menschen begegnete, die an mich geglaubt haben.
Das gesamte Interview finden Sie hier.

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