Julia (9), Mona (8), Torben (7), Nils (7) und Oskar (6) erklären das so: „Wir wohnen alle zusammen in einem schönen Haus mit Bäumen vor der Tür. Barbara ist immer für uns da. Sie kann sehr gut trösten, knuddeln und kochen.
Je später der Vormittag, desto lauter wird es in der kleinen gelben Einbauküche im SOS-Kinderdorf Worpswede. Auf dem Herd köchelt eine Gemüsepfanne mit Paprika und Mais. Jetzt noch schnell die Nudeln ins Wasser. „Was gibt‘s denn heute Leckeres?“ Julia, hellblondes Haar, hellblaue Brille, steht im Wohnzimmer.
Unterstützung bei Entwicklungsverzögerungen
Die Neunjährige besucht die Grundschule in Worpswede. Weil sie Probleme mit dem Sprechen hat und auch sonst mit gleichaltrigen Kindern oft nicht mithalten kann, unterstützt sie ein Schulbegleiter im Unterricht. Trotz ihrer Entwicklungsverzögerung ist Julia ein gewissenhaftes Mädchen. Zum Beispiel ist es ihr sehr wichtig, ihre täglichen Aufgaben in der SOS-Familie gut zu erledigen. Sie zählt sorgfältig Teller, Gläser und Besteck und deckt den Tisch. Es ist eine große fröhliche Runde, die am Esstisch Platz nimmt. „Nesthäkchen“ Oskar ist vom Kindergarten zurück und braucht Hilfe bei seiner Jeans. Der Hosenboden mit den Taschen ist plötzlich vorn. „Muss auf der Toilette passiert sein“, sagt er.
Schritt für Schritt: Die Kinder werden im SOS-Kinderdorf bestmöglich gefördert
© SOS-Kinderdorf e.V. / Foto: Torsten Kollmer
Auch Mona und die Zwillinge Torben und Nils sind inzwischen heimgekehrt. Julia, Mona, Torben und Nils sind leibliche Geschwister. Geboren in einem Zuhause ohne Geborgenheit und ohne Halt. Die Mutter war mit vier Kindern vollkommen überfordert. Auch Oskar hat in einer anderen Herkunftsfamilie Schreckliches erlebt. Wer die SOS-Familie beim Mittagessen erlebt, kann sich die dunkle Vergangenheit kaum vorstellen. Alle Kinder haben mit dem schweren Gepäck zu kämpfen, das ihnen ihre Herkunftsfamilie mit auf den Weg gegeben hat. Zwei Kinder besuchen eine Sprachheilschule in Zeven. Zwei sind noch im Kindergarten, obwohl sie das Schulalter erreicht haben. Schwere Vernachlässigung in der Baby- und Kleinkindzeit hinterlässt Spuren – oft ein Leben lang.
„Anfangs war jedes Obst eine Banane“, erinnert sich Kinderdorfmutter Barbara Wegener, die die Kinder seit 2012 begleitet. „Normalerweise kann ein Kind im Vorschulalter Obstsorten benennen. Wenn ein Kind in seinen ersten Lebensjahren keine Zuwendung erfahren, kaum Spielzeug besessen und nie ein Bilderbuch angeschaut hat, kann es das alles unter Umständen nicht.“
Alles an seinem Platz: Gummistiefel, Straßenschuhe, Hausschuhe
© SOS-Kinderdorf e.V. / Foto: Torsten Kollmer
Geborgenheit, Aufmerksamkeit und Förderung
Die Kinder in der SOS-Kinderdorffamilie brauchen deshalb nicht nur viel Aufmerksamkeit und Geborgenheit, sondern auch eine Extraportion Geduld und Förderung. Damit sie möglichst viel aufholen und eines Tages selbständig ihren Weg gehen können. Eine kinderreiche Familie zu haben ist anspruchsvoll. Den Alltag einer SOS-Kinderdorffamilie zu organisieren ist die hohe Schule des Familien-Managements. Im Wohnzimmer hat Barbara Wegener einen großen Wochenkalender aufgehängt. Darauf sind die Termine bei der Logopädin vermerkt, beim Kieferorthopäden, das therapeutische Reiten, die Besuche der leiblichen Eltern im Kinderdorf. Nicht alle Kinder in dieser Familie können lesen. Auch die nicht, die das Erstklässler-Alter eigentlich hinter sich haben. Deshalb klebt Barbara Wegener kleine Bildsymbole auf den Kalender: Ein kleiner Mund fürs Sprachtraining, ein Pferd fürs Reiten. „Ich möchte den Kindern größtmögliche Förderung zukommen lassen“, sagt sie.
Lecker! Heute gibt es selbstgemachte Pizza!
© SOS-Kinderdorf e.V. / Foto: Torsten Kollmer
Barbara Wegener ist stolz auf die Fortschritte
Auf die Fortschritte, die alle fünf Kinder gemacht haben, sind sie und das pädagogische Team von SOS-Kinderdorf stolz. Doch das ist nicht alles, und es ist auch nicht der Kern ihres Selbstverständnisses als Kinderdorfmutter: „Noch wichtiger ist mir, dass sie sich angenommen fühlen. Wenn sie hier erfahren haben: 'Ich bin liebenswert, so wie ich bin', können sie starke und selbständige Erwachsene werden.“
Und wie sehen die Kinder ihre SOS-Familie?
„Wir wohnen in einem schönen Haus mit Bäumen davor, und Barbara ist immer für uns da“, erklärt Nils das Prinzip Kinderdorf. „Wenn sie mal nicht bei uns schläft, kommt jemand anders, den wir genauso gut kennen.“ Dass Barbara „gut trösten und gut kochen“ kann, ist der achtjährigen Mona wichtig. „Knuddeln kann sie auch gut“, ruft Oskar herüber, der nach dem Essen an den Wohnzimmertisch gewechselt ist und seine Memory-Karten auslegt.
„Sie kann aber auch streng sein“, sagt Julia und zieht die Augenbrauen hoch. „Wenn wir abends nicht ins Bett gehen, wird sie manchmal so richtig schön sauer. Und weißt Du, dass Barbara manchmal ein Löwe ist?“ Ein Löwe - wie das? Julia strahlt und zeigt ein Foto. Es sieht aus wie Fasching. Zu sehen ist die Familie auf dem Sofa beim gemütlichen Fernsehabend. Alle tragen Plüschtier-Anzüge. Neben der Löwenmama gibt es ein kleines Zebra, einen Panda, einen Tiger, eine Eule und einen Drachen. „Die Kostüme sind so schön kuschelig warm“, sagt Barbara Wegener. „Und Humor ist pädagogisch wertvoll!“
Nach dem Mittagstisch gibt es ein Familienritual
Eine Stunde, manchmal auch ein bisschen länger, müssen die Kinder sich in ihren Zimmern selbst beschäftigen. Sie dürfen sich ein Spiel oder ein Buch mitnehmen, gerade steht das Hören von CDs hoch im Kurs. Gedämpft dringen Stimmen aus den Zimmern im ersten Stock. Aber es bleibt ruhig, eineinhalb Stunden lang. Barbara Wegener hat sich einen Kaffee gekocht und geht mit ihren Kolleginnen Sally Polden und Anke Fechner das Nachmittagsprogramm durch. Fahrdienste müssen organisiert, praktische Dinge für Schule und Sport beschafft werden. Es ist Ende Januar. Drei Kinder werden den Schnee ausnutzen und dick eingepackt losziehen; das Kinderdorf hat einen eigenen Schlittenberg. Nils wird in der dorfeigenen Töpferwerkstatt etwas töpfern. In der Küche brummt die Spülmaschine. Familienalltag im SOS-Kinderdorf. Es ist alles ganz normal und doch sehr anders.