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SOS-Fachtagung 2019

Aufwachsen woanders – Was brauchen junge Menschen in der stationären Erziehungshilfe?

Unter dem Motto „Aufwachsen woanders. Was brauchen junge Menschen in der stationären Erziehungshilfe?“ trafen sich am 26. und 27. September 2019 etwa 150 Fachvertreterinnen und Fachvertreter in der Botschaft für Kinder in Berlin. Zentrale Frage war, was Kinder und Jugendliche für ein möglichst gutes Aufwachsen benötigen und wie sich dies in den stationären Hilfen einlösen lässt.

Bedürfnisse von jungen Menschen mit Jugendhilfeerfahrung
Zunächst richtete sich das Augenmerk auf die Perspektive der Heranwachsenden selbst: So untersucht beispielsweise das LBS-Kinderbarometer, eine der größten Kinderstudien in Deutschland, wie junge Menschen gesellschaftliche Themen sehen, was ihr Wohlbefinden beeinflusst und welche Erwartungen sie an die Zukunft haben. Mit Zukunftserwartungen befasst sich auch Eva Marr von der Hochschule Fulda. Sie hat Heranwachsende mit Jugendhilfeerfahrung nach ihren Vorstellungen von einem guten Leben gefragt und viel über deren Wünsche nach Teilhabe und Selbstverwirklichung erfahren, die angesichts starrer Zuständigkeiten und negativer Zuschreibungen allerdings nicht selten unerfüllt bleiben. Ebenfalls aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Aussagen von jungen Erwachsenen, die den ersten Schritt ins eigenständige Leben bereits gegangen sind: So plädieren im Rahmen der SOS-Längsschnittstudie Care-Leaverinnen und Care-Leaver für eine alltagsintegrierte, begleitete Verselbstständigung in kleinen Schritten, die bereits viele Jahre vor dem Auszug beginnt. Damit dieser Prozess gelingt, brauchen viele junge Menschen jedoch mehr Möglichkeiten, sich mit der Welt außerhalb der Einrichtung auseinanderzusetzen, Interessen zu entwickeln und Zugehörigkeiten in einem neuen Umfeld aufzubauen.

Umgang mit seelisch belasteten Kindern und Jugendlichen
Neben diesen Sichtweisen und Bedürfnissen spielt – gerade im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe – auch das seelische Wohlbefinden der jungen Menschen eine große Rolle. Ergebnisse aus der BELLA-Studie (Zentrum für Psychosoziale Medizin im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) zeigen, dass psychische Auffälligkeiten häufig früh auftreten und dass sie mit psychosozialen Risikofaktoren verbunden sind (z.B. niedriger Sozialstatus, familiäre Konflikte, psychische Belastung eines Elternteils). Dies trifft auf eine Vielzahl von Kindern in der Heimerziehung zu. Daran anknüpfend widmete sich Prof. Günther Opp von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg der Frage, wie man mit seelisch belasteten Kindern umgehen kann. Erfahrungen von Vernachlässigung und Gewalt machen es diesen jungen Menschen meist schwer, Beziehungsangebote anzunehmen und Empathie zu empfinden. Aggressivität kann vor diesem Hintergrund als Verteidigungshaltung verstanden werden, die es ermöglicht, Situationen zu kontrollieren. Im Umgang mit belasteten Kindern reagieren Erwachsene zumeist auf die Probleme, die sie erzeugen, und nicht auf die Bedürfnisse, die sie durch ihr Verhalten kommunizieren. Dabei sind kompensatorische Erfahrungen durch stärkende Beziehungsangebote für diese Kinder und Jugendlichen besonders wichtig, auch wenn dies Fachkräften viel Geduld und das Aushalten von schwierigen Situationen abverlangt. „Man muss Liebe erlebt haben, um zu lieben“, so Opp, denn Liebe ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine Kompetenz.

Beziehungen als Basis pädagogischen Handelns
Um das Thema Beziehungen kreiste auch der Vortrag des renommierten Hirnforschers und Psychotherapeuten Prof. Joachim Bauer. Bauer sieht Resonanz als Schlüsselbegriff für wirksame Beziehungen an. Was die Pädagogik schon lange weiß, lässt sich heute auch anhand der Hirnforschung zeigen: Gesehen zu werden, mit einem anderen Menschen und dem, was er ausstrahlt, in Kontakt zu gehen, ist die Basis pädagogischen Handelns. Um dem gerecht zu werden, bedarf es unter anderem einer bewussten Auseinandersetzung der Fachkräfte mit der eigenen Innerlichkeit – mit den Gefühlen und Gedanken, die das betreffende Kind bzw. der Jugendliche in ihnen auslöst. Denn indem wir mit unserem Gegenüber in einer schwingungsvollen Resonanz verbunden sind, vermittelt sich sehr viel mehr von dem, was wir fühlen und denken, als uns bewusst ist.

Unterstützung für die pädagogische Arbeit
Impulse für die tägliche pädagogische Arbeit boten Workshops zu verschiedenen Themen, beispielsweise zur Biografiearbeit oder zur Ressourcenorientierung. Für Dr. Sibylle Friedrich (Institut für Sozialpädagogische Psychologie, Quickborn) sind Ressourcen oftmals unbewusste Kraftquellen, die nur dann zum Vorschein kommen, wenn die Würdigung der Probleme und das Erkennen von Stärken miteinander in Einklang gebracht werden. Ähnlich unbewusst ist vielen Fachkräften die eigene fachliche Haltung, die von persönlichen Überzeugungen, theoriebasiertem Wissen und praktischen Erfahrungen geprägt ist. Judith Rieger (Katholische Hochschule für Sozialwesen, Berlin) betont: Wenn sich Fachkräfte ihrer Haltung bewusster werden, gelingt es ihnen eher, professionelles Handeln zu hinterfragen, zu beurteilen und zu legitimieren. Für Dr. Susan Arnold vom Berufsbildungswerk Leipzig ist Vertrauen wesentliche Voraussetzung und entscheidender Bestandteil einer guten Beziehung. Dieses Vertrauen entsteht gemeinschaftlich. Um es aufzubauen, muss man nicht nur bereit sein, sich auf das Gegenüber einzulassen und es ernst zu nehmen, sondern auch geeignete Anlässe schaffen. Gerade bei Jugendlichen spielt außerdem die Verschwiegenheit des erwachsenen Gegenübers eine zentrale Rolle. Fachkräfte können die Vertrauensbildung unterstützen, indem sie verlässlich und transparent sind und indem sie offenlegen, was sie in ihrer Rolle für sich behalten dürfen und was an das Team weitergegeben werden muss.

Was macht gute Heimerziehung aus?
Die Ansprüche an die Strukturen, Konzeptionen und das alltägliche Handeln von Fachkräften in den Erziehungshilfen sind hoch. Mit einem breiten Blick auf die Heimforschung stellte Marion Moos vom Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz in ihrem engagierten Vortrag heraus, dass Heimerziehung Belastung und Ressource zugleich ist und von sehr unterschiedlichen Einflussfaktoren bestimmt wird. Positiv wirken lange biografische Linien, Normalität im Alltag, das Ausschöpfen von Bildungspotentialen und Beteiligung. Von großer Bedeutung ist zudem auch hier das Thema der Resonanz, der intensiven innerlichen Beziehung zwischen Betreuten und Fachkräften. Als entscheidendes Moment stellte Moos jedoch die Wirkung beim jungen Menschen heraus: Kommt das, was pädagogisch intendiert ist, auch wirklich an? Dazu können nur die Kinder und Jugendlichen selbst Auskunft geben. Dementsprechend lässt sich die Qualität von Heimerziehung vor allem daran bemessen, ob sie zu einer selbstbestimmten Lebensführung mit ausreichend Optionen führt.

Aktuelle und künftige Herausforderungen für die Heimerziehung
Die Podiumsdiskussion vertiefte den Blick auf die Strukturen in den Erziehungshilfen. „Was nützt die ganze gute Pädagogik, wenn sie aus strukturellen Gründen nicht wirklich umgesetzt werden kann?“, gab Juliane Meinhold vom Paritätischen Gesamtverband zu bedenken. Von einer guten Fallarbeit profitieren das Kind und die Familie, aber auch der Hilfeverlauf. Dr. Harald Britze vom Bayerischen Landesjugendamt stellte den Einstieg in die Hilfe als wesentlichen Punkt heraus, an dem sich oft auf Dauer entscheidet, ob das Kind beteiligt ist und dies auch so wahrnimmt. Marion Moos machte sich ebenfalls für mehr Beteiligung und Dialog in der Heimerziehung stark: Kinder, aber auch Eltern müssen sich einbezogen fühlen. Nur in einem intensiven Austausch können Fachkräfte verstehen, was ihr Gegenüber ausmacht und beschäftigt. Jutta Decarli, Geschäftsführerin des AFET Bundesverbandes für Erziehungshilfe e.V., sieht wertschätzende Elternarbeit als wichtigen Bestandteil von Heimerziehung, denn „jedes Kind hat Eltern, und das müssen wir anerkennen“.
Das Programm finden Sie weiter unten auf dieser Seite.
Titelfoto: © Imgorthand / istockphoto.com

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