Care-Leaver sind junge Menschen im Übergang von der stationären Hilfe in ein eigenständiges Leben, und sie sind Expertinnen und Experten in eigener Sache. Der SOS-Kinderdorf e.V., die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen e.V. (IGfH) und die Stiftung Universität Hildesheim veranstalteten am 17. und 18. September 2015 in Berlin gemeinsam die Fachtagung „Von Care-Leavern lernen!“. Mit rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der Praxis, aus Wissenschaft und Verbänden war die Tagung sehr gut besucht.
Auf dem Podium und in Diskussionen konnten sich Care-Leaver auf Augenhöhe einbringen. Sie forderten eine verlässlichere Umsetzung geltenden Rechts und eine größere Anerkennung der spezifischen Lebenslage nach der Fremdbetreuung. Studien, Forschungsergebnisse und Praxisberichte zeigten den konkreten Handlungsbedarf auf und gaben Beispiele für gelungene Verselbstständigung.
Unsicherheiten im Übergang
© SOS-Kinderdorf e.V.
Mit 18 Jahren verlassen die meisten jungen Menschen die stationäre Jugendhilfe – also deutlich vor dem durchschnittlichen Auszugsalter aus Familien. Dieser Übergang ist für viele Care-Leaver mit einer großen Hilflosigkeit verbunden: Die Jugendhilfe ist für die jungen Menschen plötzlich nicht mehr zuständig, neue Ansprechpartner stehen aber selten zur Verfügung. Care-Leaver berichten von existentiellen finanziellen Krisen nach dem Hilfeende, von unklaren Zuständigkeiten und einer Fülle an abstrakten Informationen. Sie erleben einen „Hilfedschungel“; für Beratung und Begleitung steht jedoch meist nur ein sehr begrenztes Kontingent zur Verfügung.
„Die Jugendhilfe muss sich auch über den 18. Geburtstag hinaus zuständig fühlen“
„Die Jugendphase an sich hat sich verändert und erfordert deshalb eine andere Form von der Jugendhilfe“, so Prof. Wolfgang Schröer von der Stiftung Universität Hildesheim. Nicht zuletzt biografische Belastungen und die Herausnahme aus der eigenen Familie rechtfertigten eine längere Zuständigkeit der Jugendhilfe. „Wir müssen uns auch über den 18. Geburtstag hinaus zuständig fühlen“, forderte Schröer. In einer „Kultur des Wiedersehens“ könnten je nach persönlichem Bedarf Aus- und Wiedereinstiege in das Hilfesystem möglich werden.
„Eigenständigkeit ist weit mehr als Alltagsorganisation“
© SOS-Kinderdorf e.V.
„Unter Eigenständigkeit ist nicht allein ein alltagspraktischer Zustand zu verstehen“, führte Dr. Kristin Teuber vom SOS-Kinderdorf e.V. aus. Studien des Sozialpädagogischen Instituts haben gezeigt, wie komplex der Prozess der Verselbstständigung ist. Neben der Organisation des Alltags müssen junge Erwachsene auch lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese zu vertreten oder mit Erwartungen anderer umzugehen. Dafür sind die Haltungen und Grundsätze in den Einrichtungen entscheidend. Auf der Tagung wurden die Elternarbeit und die Partizipation als pädagogische Grundsätze besonders herausgestellt.
Care-Leaver wünschen sich verlässliche Beziehungen
Aus der Sicht der Care-Leaver sind verlässliche Beziehungen entscheidend für einen gelingenden Übergang in die Selbstständigkeit. In der Praxis erleben sie aber häufig, dass mit dem Betreuungsende auch Beziehungsabbrüche einhergehen. Der Wunsch, länger in der Einrichtung zu bleiben, kann somit auch als Bekenntnis zu den Bezugspersonen verstanden werden. Neben den Betreuerinnen und Betreuern sind das oft auch die anderen Jugendlichen, die Peers. Mit dem Auszug aus der Einrichtung verlieren junge Menschen einen großen Teil des Freundschaftsnetzwerks und einen wichtigen Ort, diese Beziehungen zu leben.
Jenseits der Hilfeempfängeridentität
Um Unterstützung zu akquirieren, lernen Care-Leaver, Defizite und ihre Bedürftigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Dadurch könne sich eine „Hilfeempfängeridentität“ entwickeln, die teilweise sogar vererbt werde, stellt Dr. Eric van Santen vom Deutschen Jugendinstitut heraus. Welche Muster von Hilfeverläufen es in der öffentlichen Erziehung gibt und wie diese sich auf das spätere Leben auswirken, ist wenig bekannt. Langzeitstudien könnten helfen, diese Fragen zu beantworten und Anregungen für die Praxis geben, unterstreicht der Soziologe.
In der Jugendhilfe haben junge Menschen an sich und ihren biografischen Brüchen gearbeitet und damit auch Lebenstüchtigkeit erworben. Prof. Mike Stein von der University of York ist es wichtig, Care-Leavern eine „gewöhnliche Identität“ („ordinary identity“) zu ermöglichen. Sie sollten sich nicht einseitig als hilfe- und unterstützungsbedürftig erleben müssen.
Dies bedeutet jedoch nicht, sie nach dem Auszug einfach wie jeden anderen Erwachsenen zu behandeln, wie es Care-Leaver auf der Tagung beanstandet haben. Ihre spezifische Lebenserfahrung sei durch ein schwaches Unterstützungssystem geprägt und oft mit lebenslangen Ängsten, etwa vor sozialen Abstürzen, verbunden. Care-Leaver sind daher angewiesen auf Verständnis für ihre Situation und auf Unterstützung, die eben nicht vom Elternhaus kommen kann.
Wandel an den Schnittstellen zwischen den Systemen
Eine längere Zuständigkeit der Jugendhilfe muss daher Hand in Hand gehen mit einem Wandel in anderen gesellschaftlichen Bereichen und an den Schnittstellen zwischen den Systemen: Der Aufgabenzuschnitt und das Bewusstsein etwa bei der Arbeitsagentur, in Behörden und Bildungsinstitutionen sollte die Bedarfe junger Menschen mit Jungendhilfeerfahrungen stärker berücksichtigen. Care-Leaver brauchen Orientierung über ihre Rechte, am Einzelfall ausgerichtete Beratung sowie konkrete Hinweise, wer bei zukünftigen Problemen weiterhelfen kann.
Die Tagung in Berlin zeigte, wie fruchtbar es ist, Care-Leaver in solche Prozesse einzubeziehen, wie motiviert sie sind, ihre Erfahrungen zu teilen, zu reflektieren und an Verbesserungen konstruktiv mitzuarbeiten – auch wenn erst nachfolgende Generationen in der Fremdbetreuung von den angestoßenen Änderungen profitieren werden.