Dr. Matthias Luther ist Oberarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK). Zusammen mit Dr. Marc Schmid, dem dortigen Leitenden Psychologen für den Bereich Forschung, hat er das SOS-Qualifizierungsprogramm zum Umgang mit psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen fachlich begleitet und maßgeblich geprägt. In diesem Rahmen war er außerdem als Referent und Berater tätig. Im Interview erläutert er, welche psychiatrischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen auftreten und welche Herausforderungen damit verbunden sind. Darüber hinaus macht er deutlich, wie wichtig eine gute Kooperation zwischen den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist und wie diese gelingen und wirken kann.
Herr Dr. Luther, könnten Sie uns einen Einblick geben in den Forschungsstand zu psychischen Belastungen in der Heimerziehung?
In der Ulmer Heimkinderstudie von 2007 und 2008 sowie der MAZ-Studie* von 2011 ist die psychische Belastung von Heimkindern erstmals im deutschsprachigen Raum wissenschaftlich evaluiert worden. Es stellte sich heraus, dass etwa 80 Prozent der fremduntergebrachten Kinder traumatisiert sind, dass ein Großteil sogar mehrere traumatisierende Erlebnisse hatte. Etwa 50 Prozent der Befragten gaben an, dass sie in ihren Herkunftsfamilien tagtäglich Missbrauchssituationen und Grenzüberschreitungen erlebt haben, dass sie Zeugen von häuslicher Gewalt, von Misshandlungen wurden oder selbst Gewaltopfer waren. Das ist ein sehr hoher Anteil.
Über 70 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen erfüllen die diagnostischen Kriterien für eine psychiatrische Erkrankung, häufig sind es mehrere Störungsbilder parallel. Diese jungen Menschen sind also höchst belastet und in ihrer allgemeinen Teilhabe beeinträchtigt.
Welche Erkrankungen treten besonders häufig auf?
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Am häufigsten werden mir in Jugendhilfeeinrichtungen Kinder und Jugendliche mit Traumafolgestörungen vorgestellt. Viele Kinder in der Heimerziehung haben in ihren frühen Beziehungen zu Bindungspersonen traumatische Erfahrungen gemacht. Sie haben ihre primäre Bezugsperson beispielsweise als unsicher erlebt, vielleicht als nicht vorhanden, als impulsiv, übergriffig, unberechenbar. Und genau diese Erfahrungen beeinflussen wiederum ihr Verhalten im Kinderdorf. Je nach Entwicklungsalter äußert sich das unterschiedlich: Vor der Pubertät haben die Kinder beispielsweise Schwierigkeiten, sich emotional zu regulieren, weisen keinen sicheren Bindungsstil auf oder zeigen regelüberschreitendes und oppositionelles Verhalten. In der Adoleszenz treten dann Störungen des Sozialverhaltens, selbstverletzendes Verhalten und depressive Erkrankungen in den Vordergrund. Eine Rolle spielen dabei vor allem Symptome wie Dissoziationen, Flashbacks etc.
Welche Herausforderungen sind Ihrer Erfahrung nach mit diesen psychischen Belastungen verbunden?
Die genannten Belastungen führen vor allem zu Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung. Und in Beziehung zu leben ist ja der Kern der pädagogischen Arbeit. Ein Kind, das in seiner Herkunftsfamilie z.B. einen Missbrauch erlebt hat, bildet ein inneres Skript dazu aus, wie diese Welt funktioniert. Was es mit den Eltern erlebt hat, überträgt es später auf die restliche Welt, so auch auf das SOS-Kinderdorf. Wenn die Mutter häufig unter Drogen stand, wenn sie oft alkoholisiert oder depressiv war und die Bedürfnisse des Kindes nicht wahrnehmen konnte, dann entsteht beim Kind das Bild: „So ist es mit allen Erwachsenen. Die sind einfach nicht für mich da, die verstehen mich nicht, die können mich plötzlich schlagen. Ich muss aufpassen.“
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Mit diesem Misstrauen begegnen sie dann auch ihren Bezugspersonen in der Einrichtung. Unter solchen Voraussetzungen entsteht natürlich nicht so einfach eine gute, vertrauensvolle Beziehung. Das betrifft auch andere Lebensbereiche: Das Kind muss sich einfügen in eine Gruppe von meist sechs Kindern. Es muss sich einfügen in Regeln oder in das System Schule mit seinen eigenen Vorgaben. Bei traumatisierten Kindern laufen innerlich schwierige Prozesse ab. Sie sind häufig wie weggetreten und gehen aus dem Kontakt. Bestimmte Situationen können sie antriggern, sodass sie plötzlich impulsiv reagieren, aggressiv werden. Das kann in der Schule natürlich sehr schwierig werden.
Was sind typische Auslöser?
Es kann zum Beispiel eine strenge Lehrkraft sein, die von ihnen etwas fordert. Oder andere Kinder, die genau spüren, wo die Schwachstellen dieser Kinder liegen und sie gezielt ärgern, damit sie explodieren. Es können aber auch einfach Wiederholungen von Details aus traumatischen Situationen sein, auf die das Kind dann ganz unvermittelt reagiert, z.B. ein roter Mantel. Plötzlich fühlt sich das Kind wieder so wie in der Situation, in der es z.B. einen Übergriff erlebt hat von jemandem, der ähnlich gekleidet war.
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Die meisten Menschen reagieren dann instinktiv so, dass sie fliehen oder kämpfen oder sich tot stellen. Letzteres ist das, was die meisten machen, weil sie sich in der Situation einfach hilflos und ohnmächtig gefühlt haben. Konkret heißt das, dass diese Kinder in einer solchen Situation „dissoziieren“. Das bedeutet, sie sind wie emotional „weg“, sie spüren sich nicht mehr und haben ihre Gefühle abgespalten.
Welche Ziele sind vor diesem Hintergrund mit dem Programm verknüpft?
Das Ziel des Programms ist erst einmal, psychisch belastete Kinder und Jugendliche zu verstehen, den „guten Grund“ für ihr Verhalten zu verstehen, sie zu stabilisieren, also ihnen einen sicheren Ort zu geben, sie zu stärken und zu befähigen, damit sie sich weiterentwickeln können.
Die Pädagoginnen und Pädagogen haben im Qualifizierungsprogramm ausreichend Gelegenheit, eine verstehende Haltung zu entwickeln: Weshalb verhält sich dieses Kind so und weshalb löst es bei mir so viel aus? Warum fühle ich mich so aggressiv, hilflos, ohnmächtig in der Gegenwart dieses Kindes, und wie kann ich damit besser umgehen? Wie schaffe ich es, eine andere Haltung einzunehmen?
Und letztlich geht es auch darum, dass die einzelne Bezugsbetreuerin, der einzelne Erzieher in der Kinderdorffamilie in ein Helfernetz eingebunden ist und Entlastung durch Teamarbeit erfährt. Für die Einrichtungen ist es ganz entscheidend, dass sie gute Kooperationen aufbauen – mit den Jugendämtern, mit niedergelassenen Therapeuten, mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie, aber auch mit Schulen, mit Arbeitgebern und mit den Herkunftsfamilien –, um diesem Kind gemeinsam eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Wie gelingen gute Kooperationen zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit ihrem jeweils eigenen Grundverständnis? Welche systembedingten Haltungen sind dafür zu überwinden?
Zwei Systeme: Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie
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Es ist leider häufig noch so, dass sich diese zwei Lager gegenüberstehen: Die Kinder- und Jugendpsychiatrie funktioniert nach der Logik, dass eine Diagnostik durchgeführt wird, um eine Erkrankung festzustellen und anschließend zu therapieren – mit Psychotherapie, Medikamenten oder anderen Mitteln. Der Klient wird als Patient, als Kranker gesehen, der behandelt werden muss.
In der Heimerziehung ist das Ziel, Kinder zu erziehen, damit sie in ihrem Alltag und im späteren Leben gut zurechtkommen. Dazu brauchen sie entsprechende Unterstützung, Regeln, Pädagogik. Das sind ganz grob gesagt die beiden Seiten, die häufig Vorbehalte gegenüber der jeweils anderen haben.
Nun ist es ja so, dass die Kinder nicht nur eine psychische Belastung bzw. nicht nur Entwicklungsaufgaben zu bewältigen haben, sondern beides zugleich. Daher funktioniert es nicht, wenn die Psychiatrie die Kinder ins Heim schickt, damit sie dort „erstmal erzogen werden“ und sich dann z.B. besser an Regeln halten können. Umgekehrt ist in der Vergangenheit dasselbe passiert: Immer dann, wenn die Pädagogik in der Heimerziehung an ihre Grenzen kam, hieß es, das Kind ist krank, es braucht eine Therapie oder einen Klinikaufenthalt. Jedoch können weder die Psychiatrie noch der Therapeut in kurzer Zeit bewirken, dass im Heim hinterher alles gut funktioniert. Das war die bisherige Logik, der sogenannte Drehtüreffekt, der leider zu vielen Beziehungsabbrüchen geführt hat. Und das hilft keinem weiter.
Es ist mein Anliegen, dass Kooperationen zwischen beiden Systemen entstehen, die von einem gemeinsamen Fallverständnis getragen sind, dass eine verstehende Pädagogik angewandt wird und zugleich eine Therapie erfolgt, die pädagogische Aspekte mit einbezieht. Wir müssen dahin kommen, dass man die Kinder und Jugendlichen gemeinsam begleitet, sich ergänzt und nicht wartet, bis es zu einer Eskalation kommt. Es gilt, gemeinsam zu schauen, was das Kind braucht, damit es zu keinem vorzeitigen Beziehungsabbruch kommt.
Und wie gelingt das? Wie gelangt man zu einem gemeinsamen Verständnis, zu einer gemeinsamen Fallarbeit?
friction48 / photocase.de
© friction48 / photocase.de
Der erste Schritt ist eine Haltungsänderung auf beiden Seiten. In Basel haben wir zum Beispiel sogenannte Liaison-Kooperationen aufgebaut, d.h. feste Kooperationsvereinbarungen zwischen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Konkret heißt das, dass erfahrene Psychologen oder Kinder- und Jugendpsychiater aufsuchend in den Heimen tätig sind, dort regelmäßige Sprechstunden anbieten und Team- bzw. Fallberatungen durchführen. Ziel ist es, die pädagogischen Teams zu stärken, ihnen Sicherheit zu geben und eine andere, verstehende Sichtweise mit hineinzubringen. Wir möchten auf eine wertschätzende Art und Weise auf gleicher Augenhöhe miteinander zu einem gemeinsamen Fallverständnis kommen – zu festen Zeiten und unabhängig von Krisensituationen.
Bei Krisen oder besonders schweren Belastungen werden wir angefragt, ob wir an sogenannten Helferrunden teilnehmen, in denen zusammen mit Therapeuten und ggf. auch Jugendamtsmitarbeitern im Einzelfall beraten wird, wie es in der betreffenden Situation weitergehen kann.
Ein zweiter Bestandteil der Kooperationen in Basel ist ein 24-Stunden-Notfalldienst der Kinder- und Jugendpsychiatrie, den die Einrichtungen in Anspruch nehmen können. Das heißt, ein Notfall-Psychiater kommt bei Bedarf rund um die Uhr auch direkt in die Institution. Es kann zwar auch mal sinnvoll sein, dass ein Kind oder ein Jugendlicher für ein paar Tage in die Klinik kommt, wenn z.B. eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Aber oft hilft schon ein kurzer Besuch oder der telefonische Support nach dem Vier-Ohren-Prinzip. Dann ist man als Pädagoge nicht mehr allein mit der Situation und kann sie manchmal ganz anders lösen. Unsere Erfahrung zeigt, dass der Notfalldienst seither deutlich seltener genutzt wird.
Inwiefern unterstützt die Expertise der Kinder- und Jugendpsychiatrie das Fallverständnis?
Es sind zwei Aspekte: Der eine Bestandteil ist kinder- und jugendpsychiatrisches Wissen – ein Wissen darüber, was die Schwierigkeiten eines Kindes mit bestimmten psychischen Belastungen sind. Und wir bringen spezielles Wissen über Traumafolgestörungen ein: Wie wirkt sich eine Traumatisierung aus, gerade in der Beziehung? Aber primär geht es mir darum, mich selbst eher zurückzunehmen und das Team durch meine Moderatorenrolle bei seiner Lösungsfindung zu unterstützen. Die Pädagoginnen und Pädagogen sollen gestärkt aus einer Fallberatung herausgehen und sich selbst wirksamer erleben.
Was trägt dazu bei, dass pädagogische Fachkräfte eine größere Handlungssicherheit entwickeln, und wie macht sich diese bemerkbar?
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Eine Handlungssicherheit entsteht dadurch, dass ich mich als Pädagogin oder Pädagoge nicht mehr als so hilflos erlebe, sondern erkenne: Ich bin mit meiner Persönlichkeit und mit meinem Auftreten wirksam. Dadurch, dass ich das Verhalten der Kinder besser verstehe, bekomme ich eine innere Sicherheit und entwickele Lösungsideen. Und diese Sicherheit zeigt sich auch darin, dass die Fachkräfte im Kontakt mit Kooperationspartnern viel selbstbewusster auftreten und dass letztlich passgenauere Anschlusslösungen für die Kinder und Jugendlichen gefunden werden.
Wie läuft diese Form der Kooperation ganz konkret im SOS-Kinderdorf Schwarzwald ab, in dem Sie beratend tätig sind?
Die Kooperation mit dem SOS-Kinderdorf Schwarzwald ist aus dem Qualifizierungsprogramm heraus entstanden. In regelmäßigen, etwa monatlichen Fallberatungen hat jedes Team eine Stunde Zeit, um von ausgewählten Fällen zu berichten und eine ganz konkrete Fragestellung zu bearbeiten. Mir ist es sehr wichtig, dass in diesem kollegialen Gespräch möglichst viele Teammitglieder ihre Sichtweise darlegen und dass wir gemeinsam nach Lösungen suchen.
Eine Technik, um den „guten Grund“ für das Verhalten eines Kindes herauszufinden, ist die „Weil-Fragerunde“. Sie funktioniert so, dass das Problemverhalten eines Kindes genannt wird, etwa „das Kind stiehlt regelmäßig“. Und dann überlegen wir, warum es das tut. Das Kind stiehlt vielleicht, weil in seiner Herkunftsfamilie der Vater schon gestohlen hat. Das Kind stiehlt, weil es den Eindruck hat, es komme zu kurz. Möglicherweise hat es existentielle Sorgen oder möchte einfach Aufmerksamkeit bekommen. Und in der Annäherung an die Beweggründe des Kindes entsteht schließlich ein Fallverständnis. Im nächsten Schritt geht es dann vor allem darum, die Ressourcen dieses Kindes herauszufinden und zu nutzen oder – in manchen Fällen – Indikationen für eine psychotherapeutische Behandlung zu prüfen. Aber der Fokus liegt immer darauf, die Kinder und Jugendlichen nicht als Kranke zu sehen, sondern ihre Entwicklungspotentiale und -aufgaben in den Blick zu nehmen.
Was sind aus Ihrer Sicht Erfolgsfaktoren in der Kooperation der beiden Systeme Psychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe?
Die erste Voraussetzung sind die schon beschriebene Haltungsänderung und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Zweitens muss eine klare Struktur vorhanden sein, weswegen wir mit sämtlichen Kooperationspartnern feste Verträge abgeschlossen haben. Darüber hinaus kommt es auf eine Rechtzeitigkeit an: Schon bevor Krisen auftreten, schaut man die Fälle auf einer Vertrauensebene miteinander an. Das geht bis hin zu Fragen rund um die Aufnahme: Sind wir der richtige Ort für dieses Kind?
Eine personelle Kontinuität und auch die persönliche Ebene sind weitere Erfolgsfaktoren. Die Chemie muss stimmen, es muss eine Ebene da sein, auf der man gut miteinander arbeiten kann. Natürlich kommt es auch darauf an, dass beide Seiten realistische Erwartungen aneinander haben, dass die jeweilige Verantwortung geklärt ist und dass diese auch verlässlich übernommen wird. Ganz entscheidend ist letztlich eine Offenheit gegenüber den Konzepten des jeweils anderen Systems und eine Bereitschaft zu Veränderungen.
* Studie "Modellversuch Abklärung und Zielerreichung (MAZ)"; aktuelle Informationen und Vorträge auf www.equals.ch