Kinder und Jugendliche, die in stationäre Angebote der Kinder- und Jugendhilfe kommen, sind häufig psychisch belastet. Laut der Ulmer Heimkinderstudie von 2007/2008 sind etwa 80 Prozent von ihnen traumatisiert und 70 Prozent bringen psychische Erkrankungen mit. Viele dieser Mädchen und Jungen haben aufgrund ihrer Erfahrungen Verhaltensweisen entwickelt, die zunächst schwer verständlich erscheinen.
In der pädagogischen Arbeit begegnen die Fachkräfte den Kindern und Jugendlichen mit einer wertschätzenden Haltung und bieten ihnen verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen an. Es geht darum, mit den jungen Menschen an der Entwicklung neuer Verhaltensweisen und Bewältigungsstrategien zu arbeiten und dabei an ihren Ressourcen anzusetzen. Nicht selten gelangen die Pädagoginnen und Pädagogen im Umgang mit dem auffälligen Verhalten der Mädchen und Jungen aber auch an ihre Grenzen.
Der SOS-Kinderdorfverein hat mit seinem Qualifizierungsprogramm auf diesen Unterstützungsbedarf reagiert. Was dieses Programm konkret beinhaltet, berichten Andrea Kärcher und Wolfram Schneider-Arnoldi, die als Referenten für Personalentwicklung bzw. Angebots- und Qualitätsentwicklung maßgeblich an der Konzeption mitgewirkt haben.
Vor welchem Hintergrund ist das Qualifizierungsprogramm für den Umgang mit psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen entstanden?
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Kärcher: In den Jahren 2006 und 2007 berichteten viele Einrichtungen von einem enormen Leidensdruck ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Spannungsfeld zwischen pädagogischem Anspruch auf der einen und der Belastung durch das extreme Verhalten der Betreuten auf der anderen Seite. Einzelseminare konnten den hohen Bedarf an Unterstützung nicht auffangen, und so haben wir uns entschlossen, zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern der Einrichtungen sowie mit externen Fachleuten ein umfassendes Programm zu entwickeln.
Schneider-Arnoldi: Der Bedarf zeigte sich auch auf unserer Tagung zum Umgang mit Überforderung und Grenzüberschreitungen. Dort schilderten Fachkräfte in Fallbesprechungen ihre Verunsicherung. Kinder und Jugendliche lösten durch ihr Verhalten heftige Gefühle bei den Betreuerinnen und Betreuern aus, beispielsweise Wut und Ärger – Gefühle, die diese in der Intensität oft gar nicht von sich kannten und die im Widerspruch zu ihrem pädagogischen Selbstverständnis standen.
Welche Ziele verbindet der SOS-Kinderdorfverein mit diesem Programm?
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Schneider-Arnoldi: Das Hauptziel ist es, auch psychisch schwer belasteten Kindern Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Wenn ich als Pädagogin bzw. Pädagoge es schaffe, das Vertrauen eines Kindes zu gewinnen, obwohl es mir immer wieder zu signalisieren scheint, dass es keine Beziehung zulassen will, dann kann sich etwas entwickeln. Viele Kinder sind sehr misstrauisch gegenüber Erwachsenen. Aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen verbinden sie mit ihnen Unzuverlässigkeit, Bedrohung, Missbrauch, Gewalt, auch psychische Gewalt. Es geht also darum, jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter zu befähigen, eine Beziehung zu halten, auch wenn das Kind diese scheinbar ablehnt.
Kärcher: Unser Anliegen ist auch, dass Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen können, dass es Menschen gibt, die ihr Verhalten aushalten. Und letztlich, dass die Kinder und Jugendlichen es schaffen, langfristige Beziehungen einzugehen. Neben der Ebene des Kindes und der Fachkraft ist auch die organisationale Ebene zu bedenken. Hier geht es darum, dass die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht auf sich allein gestellt sind, sondern dass ein Unterstützungssystem in der gesamten Einrichtung entsteht und letztlich auch Risiken wie Burnout oder Grenzüberschreitungen minimiert werden.
Wie bringen Sie die funktions- und einrichtungsübergeifende Qualifizierung der Fachkräfte ins Rollen?
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Kärcher: In sechs Modulen befassen sich die Teilnehmenden mit ausgewählten psychiatrischen Störungsbildern und setzen sich damit auseinander, wie und mit welcher Haltung sie auf bestimmte Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen reagieren können. Die Mädchen und Jungen sind ja enorm sensibel dafür, was im Gegenüber vorgeht. Insofern ist es ganz zentral, dass die Pädagoginnen und Pädagogen sich als selbstwirksam erleben.
Um möglichst viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erreichen und den Aufbau einer entsprechenden Haltung in der gesamten Einrichtung anzuregen, soll zugleich ein Organisationsentwicklungs-
prozess in den Einrichtungen angestoßen werden. Eine Einrichtung, etwa ein Kinderdorf, bewirbt sich als Ganzes um die Teilnahme und entsendet dann eine Gruppe von Mitarbeitenden verschiedener Funktionsebenen in das Programm. Dieser Teilnehmerkreis fungiert zugleich als Steuerungsgruppe in der jeweiligen Einrichtung und ist dort für den passgenauen Transfer der Inhalte und Konzepte in die Praxis zuständig.
Welche Konzepte und Methoden sollen im Wesentlichen dazu beitragen, mehr Handlungssicherheit im Umgang mit psychisch belasteten jungen Menschen zu erlangen?
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Schneider-Arnoldi: Dem Programm liegt ein traumapädagogischer Ansatz zugrunde mit dem „Modell des Sicheren Ortes“ und dem „Verstehens-Ansatz“. Beim Modell des Sicheren Ortes geht es darum, auf drei Ebenen Sicherheit zu schaffen: auf der Ebene des Kindes, auf der Ebene der Fachkräfte und auf der Ebene der Einrichtung. Kinder, die nach mehreren Beziehungsabbrüchen in eine Kinderdorffamilie oder Wohngruppe kommen, brauchen eher langfristige, tragfähige Beziehungen, also auch möglichst wenig Betreuerwechsel. Sie müssen sich am neuen Lebensort sicher fühlen und darauf vertrauen können, dass ihre Grenzen und Rechte gewahrt werden.
Kärcher: Den pädagogischen Fachkräften gelingt es besser, Sicherheit zu vermitteln und verlässliche Beziehungsangebote zu machen, wenn die Rahmenbedingungen für ihre Arbeit gut und förderlich sind. Ganz zentral ist dabei eine Haltung der Fehlerfreundlichkeit: Die Kolleginnen und Kollegen müssen sich untereinander und in der Einrichtung sicher fühlen können.
Schneider-Arnoldi: Dazu braucht es eine Kultur des Vertrauens, in der die Reflexion von Unsicherheiten nicht als Schwäche, sondern als Professionalität gilt. Die eigene pädagogische Arbeit zu reflektieren, heißt auch zu offenbaren, was in der pädagogischen Beziehung zu einer oder einem bestimmten Jugendlichen bei mir ausgelöst wird.
Eine weitere Dimension im Modell des Sicheren Ortes ist der „geschützte Dialog“ zwischen der Einrichtung und anderen für die Kinder wichtigen Institutionen wie zum Beispiel Schulen. Im Sinne einer Advocacy-Funktion wirbt die Einrichtung um Verständnis für das Verhalten des Kindes. Im Gespräch kann sich das so anhören: „Dieses Kind kann sich aus diesem und jenem Grund gerade nicht anders verhalten. Ich versuche, Ihnen die Hintergründe zu vermitteln, in der Hoffnung, dass Sie das Kind in diesem Wissen besser verstehen und länger halten können.“
Und was beinhaltet der Verstehens-Ansatz?
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Schneider-Arnoldi: Der Verstehens-Ansatz geht davon aus, dass die auffälligen Verhaltensweisen, die die Kinder zeigen, Anpassungsleistungen sind, Überlebensmechanismen, die sie in bedrohlichen Situationen, meist in ihrer Herkunftsfamilie, entwickelt haben und die sie beibehalten, auch wenn sie diese im SOS-Kinderdorf nicht mehr brauchen. Es gibt also einen „guten Grund“ für das oft verstörende Verhalten der Kinder und Jugendlichen, und als Pädagogin bzw. Pädagoge versuche ich herauszufinden, worin dieser liegen könnte: Was hat das Kind möglicherweise erlebt, dass es dieses Verhalten, diese Überlebensstrategie entwickeln musste? Und wie kann ich ihm helfen, diese Strategie loszulassen und neue Verhaltensweisen zu lernen?
Ein Kind, das vernachlässigt worden ist, hat zum Beispiel gelernt: „Wenn ich an einen gefüllten Kühlschrank komme, dann hole ich mir raus, was ich kriegen kann, und verstecke das in meinem Zimmer, damit ich keinen Hunger haben muss.“ Dieses Kind kommt nun in eine Kinderdorffamilie, und wir meinen: Hier ist das Kind sicher, der Kühlschrank ist immer voll, es gibt genug zu essen. Jetzt wird das Kind aber nicht von heute auf morgen seine Überlebensstrategie aufgeben. Wenn ich als Erwachsener nun sage: „Du darfst das nicht, ich sperre den Kühlschrank ab“, dann bringe ich das Kind in Not. Dann wird es vermutlich noch extremere Verhaltensweisen zeigen. Wichtig ist also zu überlegen: Das Kind bunkert Essen – aus welchem Grund?
Wenn ich anfange zu verstehen, wenn ich Hypothesen darüber bilden kann, welche Funktion dieses Verhalten erfüllt, dann kann ich Handlungsoptionen entwickeln und gewinne an innerer Sicherheit für mein pädagogisches Handeln.
Was trägt aus Ihrer Sicht dazu bei, dass der Transfer in die Strukturen und den Arbeitsalltag der Einrichtungen gelingt?
Kärcher: Ich habe höchsten Respekt vor den Mitgliedern der Steuerungsgruppen, die den Transfer in die Einrichtungen leisten. Sie wählen im Anschluss an die Module aus, welche Aspekte sie in ihrer jeweiligen Einrichtung zu welchem Zeitpunkt und in welcher Struktur weiterbearbeiten. Neben der Planung von Inhouse-Veranstaltungen für die breite Mitarbeiterschaft geht es auch darum, bestehende Abläufe und Strukturen zu überdenken sowie die Zusammenarbeit mit anderen Hilfesystemen in der Region zu intensivieren. Als hilfreich haben sich hier Kooperationsvereinbarungen mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie erwiesen.
Schneider-Arnoldi: Der Transfer gelingt gut, wenn innerhalb der Einrichtung offene und teamübergreifende Fallbesprechungen durchgeführt werden. Dadurch entsteht der nötige Raum, um geeignete Hypothesen aufzustellen und vielfältige Handlungsansätze zu entwickeln. Außerdem bildet sich so schneller eine Vertrauensbasis unter den Fachkräften. Eine Kultur des Vertrauens kann man natürlich nicht anordnen, aber man kann einen günstigen Rahmen dafür schaffen.
Im Programm wird eine andere Herangehensweise für den Umgang mit psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen vermittelt und geübt. Könnten Sie die Wirkung dieser veränderten Haltung einmal an einem konkreten Beispiel schildern?
Schneider-Arnoldi: Ein klassischer Fall, der einen so hilflos macht, ist zum Beispiel selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen, Ritzen. Man fragt sich: Warum ritzt sich die Jugendliche, das tut doch weh? Aber für sie ist es ein Mittel, um sich selbst zu spüren, um eine Entspannung herbeizuführen nach vorher unerträglicher psychischer Anspannung. Und wenn ich diesen Mechanismus zumindest nachvollziehen kann und weiß, es hilft nichts zu sagen: „Jetzt hör mal auf damit“, dann kann ich der Jugendlichen vielleicht auch geeignete Alternativen aus dem sogenannten Notfallkoffer anbieten. Indem sie z.B. Eiswürfel auf die Haut presst oder auf eine Chilischote beißt, kann sie einen ähnlichen Effekt erzielen, ohne sich selbst zu verletzen.
Um als pädagogische Fachkraft in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben, sind klar festgelegte Verfahrensabläufe innerhalb der Einrichtung wichtig. Es gibt Sicherheit, wenn ich – zum Beispiel bei suizidalem Verhalten von Jugendlichen – weiß, was ich tun kann: Welche Vereinbarungen treffe ich mit dem Jugendlichen schon im Vorfeld solcher Situationen? Wen rufe ich im konkreten Fall an? Wo kann ich mir (auch emotionale) Unterstützung holen? Wann muss die Psychiatrie eingeschaltet werden? Und wer macht das?
Wie fließen die zentralen Erkenntnisse aus den ersten fünf Jahren in die Weiterentwicklung des Programms ein?
Kärcher: Die Rückmeldungen zeigen, dass die Modulinhalte, die in der Konzeptionsphase als wichtig eingestuft wurden, für die Praxis der stationären Angebote hilfreich sind. Zentral sind die Themen Trauma und Traumafolgestörungen, Störungen des Sozialverhaltens sowie selbstverletzendes und suizidales Verhalten. Aber auch auf die spezifischen Fragestellungen anderer Angebotstypen, beispielsweise ambulanter und berufsbildender Angebote, wird das Programm künftig noch stärker zugeschnitten.
Schneider-Arnoldi: Um die Inhalte des Programms auch bei Personalwechsel in den Einrichtungen am Leben zu halten und die Aufmerksamkeit dafür langfristig zu stärken, möchten wir die Einrichtungsleitungen künftig noch stärker in den laufenden Qualifizierungsprozess einbinden. Und wir werden in regelmäßigen Abständen weitere Durchgänge für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anbieten, die in der Zwischenzeit neu zum SOS-Kinderdorfverein gekommen sind. Durch seine Weiterentwicklung erhält das Konzept so immer wieder neue Impulse und trägt dazu bei, dass unsere Einrichtungen mehr und mehr zu „Sicheren Orten“ für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen werden.