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Fallbeispiel

Sicherheit im Umgang mit selbstverletzendem Verhalten

Als Teamleitung in der Kinderdorffamilie ist Renate Schmauder regelmäßig mit selbst- oder fremdverletzendem Verhalten, sogar mit Suizidandrohungen von Kindern konfrontiert. Insbesondere in Krisensituationen oder wenn mehrere hoch belastete Kinder und Jugendliche in einer Kinderdorffamilie leben, ist dies herausfordernd und mit einer hohen Anspannung verbunden. Am Beispiel von Linus* beschreibt Schmauder die Begleitung von psychisch schwer belasteten Kindern im SOS-Kinderdorf Pfalz. Sie berichtet, wie die Erfahrungen aus dem SOS-Qualifizierungsprogramm** zur Entlastung und Handlungssicherheit ihres Teams wie auch zur Stabilisierung von Linus beigetragen haben.
Ausgangssituation
Linus zeigte mehrere Jahre lang selbst- und fremdverletzendes, zum Teil auch suizidales Verhalten. Manchmal äußerten sich seine Aggressionen in Form von massiver Sachbeschädigung. „Immer wenn in der Therapie sein wunder Punkt berührt wurde, ist er ausgerastet. In der Kinderdorffamilie hat Linus bei den kleinsten Problemen gesagt, er bringe sich um. Er hat auch entsprechende Versuche unternommen“, erinnert sich Schmauder.
Erfahrungen in der Herkunftsfamilie

Um Linus‘ Verhalten besser verstehen und die Hintergründe nachvollziehen zu können, nahm das Team die Biographie des Jungen in den Fallbesprechungen genau in den Blick. Linus‘ Mutter hatte sich selbst vor ihrem Mann in Sicherheit gebracht, den Dreijährigen aber bei seinem Vater zurückgelassen. Dort war Linus Misshandlungen und Vernachlässigung ausgesetzt. Kinderarzt und Kindergarten meldeten, dass Linus stark unterernährt und dehydriert sei, woraufhin er unmittelbar in Obhut genommen wurde und ins SOS-Kinderdorf kam.
Die existentielle Erfahrung des Jungen, verlassen zu sein und zurückgewiesen zu werden, hatte der Junge schon früh verinnerlicht. Sie wurde in für ihn bedrohlichen oder enttäuschenden Situationen immer wieder aktiviert: Alle nachfolgenden Stiefgeschwister durften bei den Eltern bleiben, nur er nicht. „Mit dieser Grundverletzung war bei Linus – bildlich gesprochen – das emotionale Fass immer schon voll“, so Schmauder. „Kleine Alltagsanforderungen brachten es regelmäßig zum Überlaufen. Dann kam von ihm: ‚Ich bring‘ mich um‘ oder ‚Ich gehe nie wieder in die Schule'“.
Entwicklung von Handlungsoptionen
Das Team erarbeitete Maßnahmen, um die eigene Handlungsfähigkeit in Krisensituationen zu erhöhen. Rufbereitschaften und Bereitschaftsdienste brachten Entlastung, zumal Linus‘ Verhalten oft eine unmittelbare Eins-zu-eins-Betreuung erforderte. „Das war eine der erfolgreichsten Maßnahmen, um Eskalationen zu vermeiden“, erinnert sich Schmauder. „Wenn man weiß, man kann als Betreuerin konzentriert in diese Stresssituation gehen und muss sich in dem Moment nicht um die anderen fünf Kinder kümmern, kann man auch viel flexibler auf das Verhalten des Kindes eingehen“, resümiert sie.
Um Entspannung in den Alltag zu bringen und den Jungen im Familiensetting halten zu können, wurde er zeitweise von Anforderungen – wie z.B. Schule oder Aufgaben im Haushalt – befreit. Diese Sonderregelung wurde im Rahmen des Qualifizierungsprogramms sorgfältig begleitet und so vermittelt, dass alle Mitarbeiterinnen und Geschwister in der Kinderdorffamilie sie mittragen konnten. 
Therapieverlauf
Die Situation spitzte sich dennoch immer wieder zu, sodass Linus im Alter von neun bis zwölf Jahren dreimal in die Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen wurde – einmal akut nach einem Suizidversuch, zweimal für mehrere Monate. Das Kinderneurologische Zentrum, Kooperationspartner der SOS-Einrichtung vor Ort, hatte bereits eine Persönlichkeitsstörung mit hohem Aggressionspotential und selbstverletzendem Verhalten diagnostiziert und eine entsprechende Medikation vorgenommen. Das Wissen zu psychiatrischen Störungsbildern aus dem Qualifizierungsprogramm half den pädagogischen Fachkräften, sich auch mit den Ärzten der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf Augenhöhe abzusprechen.
Beim Versuch, mit Linus seine Vergangenheit zu bearbeiten, verweigerte er sich in der Klinik ebenso vehement wie in der ambulanten Therapie und reagierte heftig. „Die Ärzte vermuteten, er habe die Verletzungen und seelischen Misshandlungen, die er über Jahre erlebt hatte, ganz fest in sich eingeschlossen“, erinnert sich Schmauder, „und niemand solle versuchen, diese Verkapselung zu öffnen.“
Weichenstellung
Die Psychiatrie und die SOS-Einrichtung kamen überein, dass es zu der Zeit nicht viel therapeutischen Spielraum gab. Ein erneuter Beziehungsabbruch wurde als große Bedrohung seiner Entwicklung eingestuft. Alle Energie konzentrierte sich darauf, Wege zu finden, damit Linus dauerhaft in die Kinderdorffamilie zurückkehren könne. Das sei aber nur möglich, wenn er einen anderen Umgang mit seinen Aggressionen finde, machte ihm der Psychiater klar. Für Schmauder war dies der Durchbruch. Linus bekam ein Sozialverhaltenstraining, damit er lernen konnte, im Alltag besser mit seiner enormen Wut umzugehen. Begleitet durch den Kliniktherapeuten wurden mit Linus zudem ein Schulwechsel, eine gut eingestellte, langfristige Medikation und eine ambulante Therapie vereinbart.
Kommunikation in Krisensituationen

Auch für Krisensituationen wurde mit dem Jungen ein ganz klares Verfahren ausgearbeitet, um ihn zurück in die Kinderdorffamilie entlassen zu können: Wenn die Verständigung über Sprache nicht mehr möglich war, kommunizierten die Pädagoginnen und Pädagogen mit Linus per Kartensystem, erzählt Schmauder: „Wir haben uns gegenseitig Karten unter seiner Zimmertür durchgeschoben – grüne, gelbe und rote Karten. Ohne zu sprechen konnte er uns sagen ‚Mir geht es ganz schlecht‘. Gelb hieß zum Beispiel, ‚ich bin gereizt, ich stehe unter Spannung, aber ich kann es noch irgendwie aushalten‘. Dann haben wir alle 30 Minuten nach ihm gesehen. Wenn wir das Gefühl hatten, er sei akut gefährdet, haben wir ihm die rote Karte hingelegt. Er wusste: Bei Rot kommen wir alle fünf bis zehn Minuten rein. Wir sprechen nicht mit ihm, sondern gucken einfach nur, in welchem Zustand er ist, ob er unversehrt ist.“
Rückblickend sagt Schmauder: „Ich finde es immer noch bemerkenswert, dass er sich mit zwölf Jahren so bewusst darauf einlassen und die Konsequenzen abwägen konnte – und dass diese Absprachen wirklich gegriffen haben.“
Umgang mit Rückschlägen
Die Ambivalenz in Bezug auf seine leibliche Mutter begleitete Linus fortwährend. Er war hin und her geworfen zwischen dem Wissen, dass er bei ihr nicht gut aufgehoben wäre, und der großen Sehnsucht nach ihrer Zuwendung und Anerkennung.
Als Linus 14 Jahre alt war, meldete sich seine Mutter bei Renate Schmauder und sagte ihre Teilnahme an Linus‘ Konfirmation ab. Sie habe ein weiteres Kind bekommen und könne nicht dabei sein. Sie wisse aber nicht, wie sie es Linus sagen solle. Es war klar, dass Linus seine Konfirmation nur plante, um seine Mutter bei sich zu haben. Alarmiert rief Schmauder einen Krisenrat zusammen, bestehend aus dem behandelnden Arzt, dem Fachdienst, der Bereichsleitung und dem Team, um das Gespräch mit Linus vorzubereiten. Letztlich war die Einrichtung sehr gut aufgestellt: Sollte die Situation eskalieren, waren genug Menschen im Hintergrund, um ggf. unterstützend einzugreifen und den Jungen – falls notwendig – in die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu begleiten. Klinik und Therapeutin waren zu diesem Zeitpunkt bereits umfassend informiert. Diese Ruhe und Handlungssicherheit wirkte sich sehr positiv auf die Situation aus: „Ich führte ein langes Gespräch mit Linus, ohne dass er explodierte.“
Schmauder konnte Entwarnung geben und mit Linus seinen Konfirmandenanzug kaufen gehen. „Er weinte viel, meinte aber auch: ‚Weißt du, Renate, ich lass‘ mir von ihr doch nicht mehr mein ganzes Leben kaputtmachen.‘“ Entscheidend war, dass sich die Sicherheit der Pädagogin auf den Jungen übertrug. „Am meisten verunsichert es die Kinder, wenn sie die Nervosität ihres Gegenübers bemerken“, weiß Schmauder aus Erfahrung. „Je ruhiger man selbst bleibt, desto ruhiger wird auch das Kind.“
Verselbstständigung

Mittlerweile ist Linus auf dem Weg in ein selbstständiges Leben. Er wohnt nun in einer anderen Jugendhilfeeinrichtung, in der er bald ins betreute Wohnen wechseln darf. Mit dem SOS-Kinderdorf steht Linus nach wie vor in Verbindung. In wichtigen Situationen vertraut er sich weiterhin Renate Schmauder an.
Im Kontakt mit seiner leiblichen Mutter geht Linus erstmals in die aktive Auseinandersetzung, er konfrontiert sie damit, dass sie ihn verlassen und vernachlässigt hat. Schmauder freut sich sehr über diese Fortschritte. „Dass er anfängt, ihr gegenüber seine Verletzungen zu thematisieren, zeigt, dass die Narben endlich heilen. Er lernt, damit umzugehen. In dieser intensiven Zeit im Kinderdorf hat sich Linus sehr entwickelt und Vertrauen gewonnen – auch, weil wir immer ehrlich und transparent waren. Wir haben ihm z.B. Gründe und Dauer der Psychiatrieaufenthalte ganz klar von Anfang an gesagt. Von mir bekam er immer eine Antwort, darauf konnte er sich verlassen.“ Ohne das Programm, so Schmauder, hätten sie und ihr Team vielleicht nicht das Standing gehabt, um die Situation so gut durchzuhalten und zu gestalten. 
* Name von der Redaktion geändert
** SOS-Qualifizierungsprogramm „Psychisch belastete Kinder und Jugendliche verstehen, sichern, stärken“
Titelfoto: picture alliance/Westend61