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Fachthema

Leaving Care

Pädagogisches Fachwissen, Forschungs- und Studienergebnisse oder fachpolitische Rahmenbedingungen: Unser Fachthema Leaving Care richtet sich an Fachkräfte, Träger der Kinder- und Jugendhilfe, fachpolitisch Interessierte sowie Studierende, die sich mit der Lebenssituation von Care-Leavern und ihrem Übergang aus der Kinder- und Jugendhilfe in ein eigenständiges Leben beschäftigen. 

Wer sind Care-Leaver?

Care-Leaver haben bei meist weniger materiellen und sozialen Ressourcen weniger Zeit zum Selbstständigwerden als gleichaltrige Peers. Denn mit Erreichen der Volljährigkeit haben sie die Einrichtung, in der sie aufgewachsen sind, in der Regel zu verlassen. Zum Vergleich: Das Durchschnittsalter, in dem junge Menschen üblicherweise bei ihrer Familie ausziehen, liegt aktuell bei 24 Jahren* (*nach Eurostat). In der Ehemaligenbefragung der SOS-Längsschnittstudie untersuchen wir auch, wie trotz dieser häufig schwierigen Startbedingungen der Übergang gelingen kann.

Eigenständigkeit

Care-Leaver sind junge Erwachsene, die sich nach einer Zeit des Aufwachsens in der stationären Erziehungshilfe im Übergang in ein eigenständiges Leben befinden.

Herkunftsfamilie oder andere Betreuung

Es gibt auch Care-Leaver, die in ihre Herkunftsfamilie zurückkehren oder in eine weitere Betreuungsform wechseln, z.B. in eine andere Einrichtung oder in eine Wohngruppe.

Übergangsprozess Leaving Care

Der Fachbegriff „Leaving Care“ beschreibt den Prozess des Übergangs vom Selbstständigwerden in einer Heimeinrichtung über den Auszug bis zur Eigenständigkeit.

KJSG: wichtige gesetzliche Neuerungen, aber Herausforderungen bleiben

Die Reformen im SGB VIII durch das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) haben die grundsätzliche Benachteiligung gegenüber gleichaltrigen jungen Erwachsenen und die häufig prekären Lebenslagen von Care-Leavern anerkannt. Der Auszug aus der stationären Einrichtung und der damit verbundene Schritt ins selbstverantwortliche Erwachsenenleben meist ohne familiären Rückhalt bleiben jedoch große, auch emotionale Herausforderungen. Möglicherweise sind die allgemein hohen gesellschaftlichen Ansprüche an Leistung und Qualifizierung hierbei ein Verstärker. Eine gute Vorbereitung in der Einrichtung, die die emotionale Verselbstständigung genauso wie alltagspraktische Kompetenzen stärkt, sowie eine fachliche, stets vom individuellen Bedarf der Care-Leaver aus gedachte Übergangsbegleitung sind daher umso wichtiger.

Forschung: SOS-Längsschnittstudie und Leaving Care

In den Ehemaligenbefragungen der SOS-Längsschnittstudie nehmen wir die unterschiedlichen Werdegänge von Care-Leavern in den Blick. Wie bewältigen sie den Schritt in die Eigenständigkeit? Was stärkt sie im Übergang? Im Zweijahresrhythmus führen wir Fragebogenerhebungen mit Care-Leavern durch; in den dazwischen liegenden Jahren finden qualitative Interviews mit den Ehemaligen statt. Mehr zu den Erhebungswellen. Mit dieser Panelstudie erfassen wir den Leaving-Care-Prozess sowie ihr Fußfassen im Erwachsenenleben ebenso wie ihre Zukunftsvorstellungen und wichtigen Lebensereignisse. 

Leaving Care: kompaktes Fachwissen aus verschiedenen Perspektiven

In unseren Artikeln, Interviews und Publikationen zum Fachthema Leaving Care kommen Expert*innen aus Praxis, Angebotsentwicklung und Forschung zu Wort. Und ein Care-Leaver erzählt, wie er selbst den Übergang erlebt hat. Diese Fragen beleuchten wir aus verschiedenen Perspektiven:

  • Wie kann die Jugendhilfe die jungen Menschen gut auf die Selbstständigkeit vorbereiten? Wo gibt es strukturelle oder institutionelle Hürden? 
  • Welche Faktoren wirken sich förderlich auf das Erleben des Auszugs aus der stationären Einrichtung aus?
  • Worauf kommt es bei der Begleitung der Care-Leaver in und nach dem Prozess des Übergangs ins Erwachsenenleben an?
  • Wie können Rechte von Care-Leavern weiter gestärkt werden? 

Inhalte zu diesem Fachthema

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Fragen & Antworten zum Thema Leaving Care

Das im Juni 2021 verabschiedete Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG, vgl. BMFSFJ 2021) beinhaltet für Care-Leaver und junge Volljährige folgende Neuregelungen:
  • die Stärkung des Rechtsanspruchs auf Hilfe für junge Volljährige über die Volljährigkeit hinaus (SGB VIII, § 41, Absatz 1: in der Regel bis zur Vollendung des 21. Lebensjahrs),
  • die Absenkung bei der Kostenheranziehung von 75 auf 25 Prozent (§ 94 SGB VIII),
  • die Einführung der Nachbetreuung für einen angemessenen Zeitraum je nach individuellem Bedarf bzw. dem Stand der Persönlichkeitsentwicklung (SGB VIII, § 41a)
  • sowie die Möglichkeit, in eine Hilfe zurückzukehren („Coming-Back-Option“; § 41 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII: die „erneute Gewährung oder Fortsetzung einer Hilfe“, nachdem sie zuvor beendet wurde).
Die Neuerungen unterstreichen, dass Hilfen für Care-Leaver bei Bedarf nun regelhaft zu gewähren sind ─ und keine Kann-Leistungen mehr sind. Care-Leaver haben ein Recht darauf, in allen Belangen ihres Übergangs unterstützt zu werden! Die öffentlichen wie freien Träger der Jugendhilfe sind jetzt gefordert, ihre Praxis entsprechend weiterzuentwickeln.
Wir begrüßen, dass der Gesetzgeber mit der SGB-VIII-Reform teilweise den Forderungen aus der fachpolitischen Leaving-Care-Debatte gefolgt ist – und somit auch dem aktuellen Wissensstand zu Übergangsprozessen von Care-Leavern. Zu den zwei Stellungnahmen von SOS-Kinderdorf e.V. während des Reformprozesses.
Aus unserer Sicht reicht jedoch die verabschiedete Fassung des Rechtsanspruchs für junge Volljährige als Muss-Leistung allein noch nicht aus, um der Lebenssituation und dem Unterstützungsbedarf von Care-Leavern zu entsprechen. Aufgrund unserer langjährigen Erfahrung in der Begleitung von Care-Leavern plädieren wir weiterhin dafür,
  • die Regel-Altersgrenze für die Hilfe für junge Volljährige (in § 41 Abs.1 Satz 2 SGB VIII) von 21 auf mindestens 23 Jahre anzuheben,
  • die bedarfsgerechte und am Einzelfall ausgerichtete Nachbetreuung in die Praxis umzusetzen, 
  • die Kostenheranziehung komplett abzuschaffen. Ausdrücklich begrüßen wir daher die Bestrebungen der aktuellen Regierung, die Kostenheranziehung von aktuell 25 % auf null zu senken.
Aus unserer Forschung und Praxis wissen wir, dass junge Menschen neben alltagspraktischen Kompetenzen vor allem eine innere Bereitschaft zum Auszug, psychische Stabilität sowie unterstützende soziale Beziehungen brauchen. Wie jedoch lassen sich gerade diese psychosozialen Faktoren im Verselbständigungsprozess stärken und im institutionellen Setting berücksichtigen? Mehr dazu auch im Fachartikel Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit
  • Durch frühzeitige und in den Einrichtungen gelebte Beteiligungsformen der jungen Leute in allen sie betreffenden Angelegenheiten sowie die stetige Ermutigung, eigene Vorstellungen zu entwickeln. Hierzu gehören vor allem auch Themen, die die eigene Zukunft (z.B. Bildungsweg, Beruf) und Lebensgestaltung sowie damit verbundene Fragen, Wünsche, aber auch Herausforderungen und Ängste betreffen.
  • Durch stabile und wertschätzende Beziehungserfahrungen (Beziehungskontinuität durch Fachkräfte) und dadurch Stärkung der eigenen Beziehungsfähigkeit. Mehr dazu im Fachartikel „Die sozialen Beziehungen von Care-Leavern“. 
  • Durch Förderung der selbstständigen Beziehungsgestaltung (Ressource Netzwerkkompetenz, z.B. durch die Schaffung von Freiräumen für Kontaktmöglichkeiten zu Peers außerhalb der Einrichtungen) sowie Konzepte zur Reflexion der eigenen Biografie und der Beziehungserfahrungen (Ablösung von Betreuungspersonen, Positionierung zur Herkunftsfamilie, Reflexion der eigenen Rolle in Partnerschaften etc.) Mehr dazu im Fachartikel „Wege in die Eigenständigkeit“.
Ziel der stationären Jugendhilfe sollte sein, junge Menschen zu einem selbstbestimmten und finanziell unabhängigen Leben zu befähigen. Um Care-Leaver im Übergang in die Eigenständigkeit bestmöglich und ohne Fokussierung auf Defizite zu unterstützen, ist insgesamt ein breites Set an passgenauen Hilfen und Maßnahmen erforderlich. Diese Erkenntnis unterstützen auch Aussagen von SOS-Ehemaligen in unserem Befragungssample. Erfreulicherweise sind einige der Hilfen mit dem neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG, vgl. BMFSFJ 2021) jetzt verbindlicher geregelt. Weitere Unterstützungsformen sind:
  • Eine frühzeitige Übergangsplanung mit allen Beteiligten im Hilfeplanverfahren sowie ein verlässlicher Zugang zu weiteren Unterstützungsstrukturen bei akuten Problemlagen (Therapie, Drogenberatung, Schuldenberatung) oder bei früher Elternschaft (Mutter-Kind-Wohnangebote, Frühe Hilfen)
  • Die Klärung von Schnittstellen zwischen den Sozialleistungsträgern in der Übergangsbegleitung, um Versorgungs- und Leistungslücken zu schließen. 
  • Hierzu gehört auch eine verlässliche Begleitung auf dem (höheren) Bildungsweg: schulische oder berufliche Ausbildungen sowie Freiwilligendienste sind kein Grund, um Hilfeleistungen zu beenden. Hilfen für begonnene Ausbildungen müssen auch über das 21. Lebensjahr hinaus gewährt werden. 
  • Eine fachliche und vertrauensvolle Begleitung vor und während des Auszugs. Hierzu gehört unbedingt, dass Fachkräfte die Hilfegestaltung immer vom individuellen Bedarf der Care-Leaver aus denken. Und: Die Care-Leaver selbst sind die wichtigste Akteure ihres Übergangs! Auch dieser Perspektivwechsel ist zusammen mit der grundsätzlichen Haltung, den jungen Menschen „auf Augenhöhe“ zu begegnen, zu vollziehen. 
  • Der Ausbau niedrigschwelliger Angebote: z.B. Peer-to-Peer-Beratungen sowie Räume für Austausch und Begegnung schaffen, denn: Manche Aufgaben und Themen können nicht von (uns) Professionellen gelöst werden. Auch diese Erkenntnis gehört dazu. 
  • Die Förderung von Selbstvertretungen durch die Jugendhilfe ─ und nun auch per Gesetz (§ 4a SGB VIII) verpflichtenden Zusammenarbeit mit selbstorganisierten Care-Leaver-Netzwerken. Ein SOS-Care-Leaver-Netzwerk befindet sich aktuell im Aufbau.
Wie kann Nachbetreuung vor Ort aussehen? Wie lassen sich Infrastrukturen und Netzwerke aufbauen, die junge Menschen für einen gelingenden Leaving-Care-Prozess brauchen?