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Interkulturelle Öffnung

Zugänge schaffen für Menschen mit Migrationshintergrund

„Organisationen, insbesondere Kommunen und Verbände, müssen sich interkulturell öffnen, müssen sich verändern, neue Haltungen einnehmen. Wir brauchen eine neue gesellschaftliche Identität.“ Dr. Hubertus Schröer leitet das Institut für Interkulturelle Qualitätsentwicklung München. Seine langjährigen Erfahrungen als ehemaliger Leiter des Jugendamts München und erster Integrationsbeauftragter der Stadt München fließen heute in die Beratung von Kommunen und Verbänden ein, die einen Prozess der interkulturellen Öffnung anstreben. Im Gespräch ordnet er ein, was interkulturelle Öffnung konkret bedeutet und wie sie in der Kinder- und Jugendhilfe gelingen kann. 

Was ändert sich in der Kinder- und Jugendhilfe durch die vermehrte Zuwanderung von geflüchteten Menschen?
Im Prinzip nichts. Es geht darum, Menschen, die kommen, unterzubringen, ihnen Sprache zu vermitteln, sie in die Lage zu versetzen, einen Arbeitsplatz zu finden, und Ähnliches. Es geht um Teilhabe und Integration – und das ist kein neues Thema, sondern eines, das uns seit 1955, spätestens seit dem Anwerbestopp 1973 begleitet. Deutschland war schon immer ein Ein- und Auswanderungsland, mit allen Vor- und Nachteilen. Und Vielfalt ist das herausragende Kennzeichen einer globalisierten Gesellschaft.
Was die jetzige Situation von früheren Migrations- und Flüchtlingsbewegungen unterscheidet, ist die sehr hohe Zahl von Einwanderern in kürzester Zeit. Und die Zusammensetzung der Zuwanderer ist natürlich anders als früher. Mit Flüchtlingen aus dem arabischen Raum oder aus Afrika scheinen andere Herausforderungen verbunden zu sein als mit den Flüchtlingen zur Zeit des Jugoslawienkriegs oder den Gastarbeitern in den 1950er Jahren. Die wachsende Islamophobie in der deutschen Gesellschaft, die vermeintlichen kulturellen Differenzen und die Ängste vor so vielen alleinstehenden jungen Männern erschweren eine erfolgreiche gesellschaftliche Teilhabe erst einmal.

Welche Herausforderungen sehen Sie aktuell?
Natürlich müssen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, finanzielle und personelle. Und wir brauchen Strukturen und Konzepte, um naheliegende Fragen zu beantworten: Wie können wir die Menschen ins Arbeitsleben eingliedern? Wie kann die Schule, wie können Kitas diesen Zustrom von jungen Menschen bewältigen?
Die Kinder- und Jugendhilfe braucht flexiblere Lösungen, um auf den Bedarf reagieren zu können. Es wird z.B. fast nur über unbegleitete Minderjährige gesprochen. Dass eine sehr viel größere Zahl begleiteter Minderjähriger da ist, kommt in den öffentlichen und fachlichen Diskursen zu wenig vor. Während die Unbegleiteten durch die Jugendhilfe in der Regel gut versorgt werden, sitzen die begleiteten Kinder mit ihren Eltern in Gemeinschaftsunterkünften, wo sich kaum jemand um sie kümmert. Also sollten Träger, die offene Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien machen, aus ihren Einrichtungen raus- und in die Gemeinschaftsunterkünfte reingehen, was ja auch schon vielfach geschieht.
Das Thema Traumatisierung ist sicher auch ein Aspekt, der die Kinder- und Jugendhilfe beschäftigen und vor neue Herausforderungen stellen wird. Ich stelle eine große Unsicherheit aufseiten des Fachpersonals fest, die Angst, in diesem Zusammenhang etwas falsch zu machen.

Was ist mittelfristig zu tun, um den geflüchteten jungen Menschen das Ankommen, die Orientierung und die Teilhabe zu erleichtern?
Auf gesellschaftspolitischer Ebene brauchen wir aus meiner Sicht ein klares Integrationskonzept – verbunden mit den Themen Willkommens- und Anerkennungskultur und interkulturelle Öffnung. Dazu gehört eine Veränderung von gesellschaftlichen Haltungen, mit denen wir an die aktuelle Situation herangehen. Es geht darum, Gleichheit und Verschiedenheit anzuerkennen, Vielfalt wertzuschätzen, allen eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen und sensibel zu sein gegenüber Machtungleichheiten und Alltagsrassismus. Es muss ein tiefgreifender Kulturwandel stattfinden in Deutschland – das ist für mich die gesellschaftspolitische Herausforderung.
Organisationen, insbesondere Kommunen und Verbände, müssen sich interkulturell öffnen, müssen diese neuen Haltungen einnehmen. Dafür brauchen wir entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen, z.B. die Vermittlung von Wissen über Migrationsprozesse oder von interkultureller Kompetenz. Wichtig sind aber vor allem organisatorische Veränderungen, um die Zugangsbarrieren zu den sozialen Dienstleistungen in einer Stadt zu verringern. Zugangshindernisse ergeben sich etwa durch fehlende Informationen, fehlende Verständigungsmöglichkeiten und bürokratische Routinen. Daran wird in relativ vielen Kommunen und Ländern intensiv gearbeitet, insbesondere dort, wo es eigenständige Integrationsministerien gibt.

Wie kann es gelingen, dauerhaft geeignete Strukturen in der Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen, um die Menschen, die neu zu uns kommen, zu versorgen, zu integrieren und zu befähigen?
Die Kinder- und Jugendhilfe hat ja gute Strukturen, einen guten gesetzlichen Rahmen. Sie hat sinnvolle Maßnahmen, Konzepte und Standards entwickelt – also im Grunde die besten Voraussetzungen. Die Frage ist nur, ob diese Strukturen so qualifiziert und offen sind, dass sie tatsächlich auch Menschen anderer Herkunft in der Form offenstehen, wie es das Gesetz verlangt. Und in der Praxis zeigt sich, dass Menschen mit Migrationshintergrund in den Angeboten noch immer nicht ausreichend repräsentiert sind oder auch, dass Hilfen für diese Gruppe zu spät kommen oder zu knapp bemessen sind.
Der Schlüssel liegt aus meiner Sicht in der interkulturellen Öffnung. Letztlich kommt es aber auch in diesem Zusammenhang auf die Grundsätze guter Sozialer Arbeit an, also Lebenswelt- und Sozialraumorientierung, die in der interkulturellen Arbeit unter Umständen neu interpretiert werden sollten.

Was verstehen Sie unter interkultureller Öffnung?
Ich unterscheide zwischen interkultureller Orientierung und Öffnung sowie zwischen Diversity und Diversity Management. Diversity bezeichnet eine Haltung der Wertschätzung und Anerkennung von Vielfalt.
Der Diversity-Ansatz nimmt alle wesentlichen Vielfalts-Dimensionen in den Blick, also nicht nur die ethnische Herkunft, sondern auch die Themen Gender, Behinderung, Alter, sexuelle Orientierung, etc. DiversityManagement betrifft die Umsetzung: Wie gehe ich in meiner Organisation mit Vielfalt um, was mache ich konkret, um ihr gerecht zu werden?
Interkulturelle Öffnung ist meist verbunden mit ethnischer Herkunft und dem Zugang von Familien mit Migrationshintergrund zu öffentlichen Dienstleistungen. Mit interkultureller Orientierung ist dementsprechend eine sozialpolitische Haltung gemeint, die es einzunehmen gilt – eine Haltung der Anerkennung und Wertschätzung ethnischer Vielfalt, Fremdheit usw. Erst wenn diese Haltung in einer Organisation Eingang gefunden hat, kann sie den Schritt machen zur interkulturellen Öffnung im Sinne von handelnder Umsetzung dieser Haltung.
Dann gilt es zu überprüfen, welche Hindernisse Menschen davon abhalten, eine Dienstleistung anzunehmen, und was ich tun kann, um diese Barrieren abzubauen. Das ist der Prozess der interkulturellen Öffnung. Organisationspolitisch heißt das, ich setze mir Ziele, ich entwickle Maßnahmen, um diese Ziele zu erreichen, und ich evaluiere, ob ich auch wirklich erreicht habe, was ich mir vorgenommen habe.

Was heißt interkulturelle Öffnung konkret für die Kinder- und Jugendhilfe?
Übertragen auf die Kinder- und Jugendhilfe bedeutet das: Wenn ich eine erzieherische Hilfe anstrebe oder ein Kind in eine stationäre Hilfe aufnehmen will, dann geht es darum, zu berücksichtigen, welche verschiedenen Vielfaltsdimensionen in der (Herkunfts-)Familie eine Rolle spielen.
Um ein Beispiel zu nennen: Wegen väterlicher Gewalt sollte ein Mädchen aus einer Familie mit Migrationshintergrund gegen den erklärten Wunsch der Tochter herausgenommen werden. Bei genauerem Hinsehen wurde festgestellt, dass die plötzliche Gewalt des Vaters nicht etwa auf das unterstellte islamische Erziehungsverhalten zurückzuführen war, sondern auf seine Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Verzweiflung. Die Tochter war trotz der Gefährdung in der Familie so tief verwurzelt, dass eine Trennung für sie unvorstellbar war. Die richtige und erfolgreiche sozialpädagogische Intervention war dann eine kurzfristige Familienhilfe und vor allem die Unterstützung bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz.
Es geht also darum, im Blick zu behalten, ob sich verschiedene Dimensionen überschneiden und dadurch die sozialen Problemlagen in einer Familie ggf. verschärfen. Die soziale und die ökonomische Benachteiligung sind oft viel entscheidender als die Frage der ethnischen Herkunft.

Welche Schritte sind für eine Organisation mit der interkulturellen Öffnung verbunden?
Wenn eine Organisation der Kinder- und Jugendhilfe sich zum Ziel setzt, einen Prozess der interkulturellen Orientierung und Öffnung anzustoßen, dann schauen sich im nächsten Schritt die zugehörigen Einrichtungen ihre Strukturen und ihre Zielgruppen an unter dem Gesichtspunkt: Erreiche ich Familien mit Migrationshintergrund bzw. deren Kinder? Wie stark sind diese in meiner Einrichtung repräsentiert, und entspricht das dem Anteil in meinem Sozialraum?
Erreicht man diese Gruppe nicht in angemessenem Maße, schaut man sich an, woran das liegt. Man analysiert die Schlüsselprozesse, zum Beispiel den Erstkontakt, die Anamnese. Für alle Schlüsselprozesse sollten Einrichtungen Standards haben, nach denen bestimmte Aspekte abgefragt werden. Und dann prüft man, ob diese Prozesse und Standards auch interkulturelle Aspekte berücksichtigen, also ob z.B. der Migrationshintergrund Beachtung findet, und ergänzt sie gegebenenfalls.

Was verstehen Sie unter interkultureller Kompetenz, und was bedeutet sie für das pädagogische Handeln der Fachkräfte?
Interkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit, effektiv und angemessen mit Menschen aus anderen Kulturkreisen kommunizieren und interagieren zu können – auf der Basis von Wissen, von Fähigkeiten und Haltung.
Man muss sich Wissen aneignen, beispielsweise auf den Gebieten Migrationsgeschichte und Ausländerrecht. Man sollte sich beim Aufenthaltsstatus auskennen, denn dieser gibt Sicherheit und eröffnet Zugangschancen, oder aber er bewirkt Verunsicherung, und das hat wiederum massive Auswirkungen auf das Familienleben und auf Erziehungsprozesse.
Zu den Haltungen zählt der Umgang mit Ambivalenzen und Unsicherheit, also die Fähigkeit, Unsicherheiten  und nicht-eindeutige Situationen auszuhalten. Das sind die größten Herausforderungen, die für die pädagogischen Fachkräfte mit Vielfalt verbunden sind.
Interkulturelle Kompetenz bedeutet auch, die Lebensweltorientierung als Ansatz ernst zu nehmen, neugierig zu sein auf die Lebensverhältnisse der Menschen, mit denen wir in der Sozialen Arbeit zu tun haben und aufzuschlüsseln, wie die Strukturen in der Familie und im Sozialraum beschaffen sind und wie diese zusammenhängen.
Wenn ich in meiner pädagogischen Arbeit all diese Prinzipien berücksichtige, dann stelle ich auch alle Fragen, die notwendig sind, um den Hintergrund einer Familie mit Flucht- oder Migrationserfahrung zu erforschen. Dann bin ich neugierig und offen genug, um mich überraschen zu lassen und empathisch genug, um mit Fremdheit umgehen zu können. Grundlegend ist neben dieser Haltung aber auch, dass die Fachkräfte beim Ausbau ihrer interkulturellen Kompetenz ausreichend unterstützt werden durch Fort- und Weiterbildung.