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Vom Clearing bis zur Verselbstständigung

Begleitung nach der Flucht: Wie die "Hilfekette" funktioniert

„Wir haben verschiedene Angebote, die ineinandergreifen, und legen viel Wert darauf, die Übergänge gut zu begleiten“, berichtet Karin Heck, Bereichsleiterin für stationäre Hilfen zur Erziehung im SOS-Kinderdorf Saarbrücken. „In Bezug auf die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge heißt das: Von dem Moment, in dem sie in Saarbrücken ankommen, bis zu ihrem Ausscheiden aus der Jugendhilfe sollten sie eine Hilfekette vorfinden. Sie brauchen ein Angebot, das sie nahtlos entsprechend ihrer Bedarfe und ihrer Fähigkeiten versorgt.“
Ankunft
Am Beispiel von Mustafa beschreibt Karin Heck die typischen Stationen eines unbegleiteten Minderjährigen: Mustafa kommt aus Afghanistan. Die Bundespolizei greift ihn in Saarbrücken im Zug aus Paris auf, weil er keine Ausweispapiere vorweisen kann. Dort wird er befragt, wo er herkommt. Mustafa gibt an, dass er minderjährig ist und wird daraufhin vom Bereitschaftsdienst in Obhut genommen und in das Clearinghaus Völklingen gebracht. Das SOS-Kinderdorf Saarbrücken betreibt dort in Kooperation mit dem Diakonischen Werk an der Saar eine Inobhutnahmestelle mit acht bis zehn Plätzen und mehrere Clearinggruppen. Insgesamt sind dort 66 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge untergebracht.
Clearing
In der Inobhutnahmestelle kann Mustafa duschen, bekommt neue Kleidung und Essen. Wie die meisten Jugendlichen schläft er nach seiner strapaziösen Flucht erst einmal viel. Nach seiner Altersfeststellung durch das Jugendamt und einer medizinischen Untersuchung kommt Mustafa in den Clearingbereich. Dort bezieht er zusammen mit einem anderen Jugendlichen aus seinem Land ein Zweibettzimmer. Ganz wichtig ist von Anfang an eine klare Tagesstruktur: Frühstück, Sprachkurs, Mittagessen. Nachmittags kann Mustafa seine Wäsche waschen, im Garten Volleyball oder Fußball spielen, sich in die PC-Liste eintragen und online Kontakt mit seinen Angehörigen aufnehmen.
Nach zweieinhalb bis drei Monaten im Clearinghaus haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihn gut kennengelernt und können ihn einschätzen. Im Clearingbericht halten sie fest, was sie über seine gesundheitliche Situation herausgefunden haben, was er von seiner Familie erzählt und welche Fluchtgründe er angegeben hat. Wenn ein unbegleiteter Minderjähriger familiäre Beziehungen hat, z.B. einen Onkel in Deutschland, wird versucht, die Familie zusammenzuführen. Der Bericht sagt etwas über seinen Bildungsstand aus und darüber, was er hier erreichen will. Auf dieser Basis versucht die Einrichtung, mit dem Jugendlichen eine Perspektive zu entwickeln. Manche haben schon ganz klare berufliche Vorstellungen, zum Teil auch Berufserfahrung, andere konnten kriegsbedingt mehrere Jahre nicht zur Schule gehen. Manche kommen auch als Analphabeten hierher.
Übergang in andere Hilfen
Bei der Perspektivklärung schaut man auch darauf, wie selbstständig ein Jugendlicher ist, und schätzt seine psychische Stabilität ein. In der Regel bekommen alle unter 16-Jährigen die Empfehlung, in eine vollstationäre Wohngruppe mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu ziehen. Bei den Älteren hängt das vom Entwicklungsstand und der persönlichen Situation ab. Wenn sie z.B. psychisch sehr belastet, möglicherweise auch traumatisiert sind, wird ihnen ebenfalls eine 24-Stunden-Betreuung empfohlen. Wirken sie sehr eigenständig, motiviert und emotional sicher, können sie ggf. schon in einer Jugendwohngemeinschaft leben.
Mustafa ist zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt und kommt in eine Jugendwohngruppe. Es wird geschaut, ob er direkt in die Schule gehen kann oder ob er vorab noch einen Sprachkurs braucht. Nach einem Jahr meint er, er könne eigentlich selbstständiger leben. Die Einrichtung teilt seine Einschätzung, sodass Mustafa von der Wohngruppe in eine weniger betreute Wohnform umziehen kann.
Inzwischen ist er volljährig, lebt in einer eigenen Wohnung im betreuten Wohnen und macht in Kürze seinen Realschulabschluss. „Mustafa war bildungsmotiviert und intelligent. Das ist natürlich auch eine Voraussetzung, um relativ schnell einen Schulabschluss in einer fremden Sprache zu schaffen, die man erst noch erlernen muss. Viele Inhalte in der Schule erschließen sich einem, auch wenn es Mathe ist, nur über die Sprache“, so Karin Heck. Schon seit gut fünf Jahren begleitet die Sozialpädagogin mit ihrem Team im SOS-Kinderdorf Saarbrücken unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sie hatten das Glück, ihr Angebot für junge Flüchtlinge den Bedarfen entsprechend langsam und systematisch entwickeln zu können.
Pragmatisch helfen in der Notsituation
Andere Einrichtungen sind in Notsituationen unter Umständen gefordert, schnell und pragmatisch zu handeln. So auch das SOS-Kinderdorf Düsseldorf, das im Oktober 2015 in kürzester Zeit acht unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die von Obdachlosigkeit bedroht waren, in der Sporthalle seines Jugendtreffs unterbrachte. Im Januar folgten weitere acht afghanische Jugendliche, für die das SOS-Team zügig ein geeignetes Haus entrümpelte und renovierte.
„Anfangs hatten wir dafür weder räumliche noch personelle Ressourcen“, sagt Herbert Stauber, Leiter des SOS-Kinderdorfs Düsseldorf. „Wir mussten also viel improvisieren und waren zugleich auf der Suche nach Personal.“ Mittlerweile hat die Einrichtung trotz des Fachkräftemangels elf neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinzugewinnen können.
Grenzen
„Wenn es darum geht, die Jugendlichen bestmöglich unterzubringen und zu begleiten, kann eine Organisation wie wir eine Menge beitragen“, bemerkt Stauber. „Aber wir bewegen uns natürlich innerhalb bestimmter Grenzen. Zum einen, weil wir an unseren fachlichen Standards festhalten wollen, zum anderen sind wir in unserer pädagogischen Arbeit auch abhängig von der Schulverwaltung und der Ausländerbehörde, also von bestimmten bürokratischen Abläufen, die uns und den Jugendlichen einiges abverlangen.“ Dadurch baut sich natürlich eine gewisse Ungeduld und Spannung bei den Jugendlichen auf. Sie sind sehr motiviert, auf ihrem neuen Weg voranzukommen, schnell Deutsch zu lernen und sich zu integrieren, so Stauber: „Die Jugendlichen wollen den Schulplatz jetzt, sie wollen lernen und nicht warten. Umso wichtiger sind eine feste Tagesstruktur und klare Regeln. Die Jungs brauchen Halt, Orientierung und das Gefühl, dass sie hier nicht sitzen und warten, sondern dass direkt was passiert.“
Neben der Ungewissheit, wie es in Deutschland weitergeht, beschäftigen die jungen Menschen auch mehr oder weniger verdeckte Aufträge von zu Hause. Die Familie erwartet von ihnen, dass sie Geld schicken, weiß Nicole Cramer, Bereichsleiterin im SOS-Kinderdorf Düsseldorf. „Wir müssen die Schleuser noch bezahlen, unsere ganze Familie ist verschuldet wegen dir“, solche Sätze haben die Jugendlichen im Ohr. Auch Karin Heck hat die Erfahrung gemacht, dass Telefonate der jungen Menschen mit ihrer Herkunftsfamilie sehr belastend sein können. Wenn die Familie berichtet: „Deine kleine Schwester ist krank, aber wir haben kein Geld, um den Arzt zu bezahlen.“ Oder: „Dein Bruder ist von den Taliban in ein Lager interniert worden. Du als der älteste Bruder hättest eigentlich als Kämpfer ausgebildet werden sollen, aber weil du nicht da bist, muss jetzt dein kleiner Bruder gehen.“
Solche Botschaften gehen natürlich nicht spurlos an den Jugendlichen vorüber. Psychische Krisen der Jugendlichen werden auch ausgelöst durch Diskurse in der Bundespolitik. „Wenn z.B. diskutiert wird, Afghanistan zum sicheren Herkunftsland zu erklären, haben die afghanischen Jungs schlaflose Nächte“, so Heck.
Den Jugendlichen Halt geben
Die Sozialpädagogin spürt einen großen Bedarf bei den Jugendlichen, über solche Sorgen und auch über Fluchterlebnisse zu sprechen. „Manche öffnen sich schon im Clearinghaus, viele aber erst nach einiger Zeit. Sie kennen es meist gar nicht, dass Erwachsene sich so intensiv um sie kümmern und sich mit ihnen individuell beschäftigen. Das ist erst einmal ganz fremd für sie“, reflektiert Heck. In der Wohngruppe oder Jugendwohngemeinschaft bekommen sie einen festen Bezugsbetreuer, der sie später auch ins betreute Wohnen begleitet. „Und im Rahmen dieser Betreuung entsteht oft so eine enge, vertraute Beziehung, dass sie sich auch mit schweren Erlebnissen anvertrauen.“

Fachliche Begleitung im neuen Arbeitsfeld

Kolleginnen und Kollegen, die in die Betreuung und Begleitung von Menschen mit Fluchterfahrungen einsteigen und ihnen verlässliche Beziehungen anbieten wollen, benötigen eine gute fachliche Begleitung und Unterstützung. Das gilt natürlich insbesondere für Berufsanfängerinnen und -anfänger im stationären Bereich, aber auch für Fachkräfte in offenen Angeboten, die mit Flüchtlingskindern und ihren Familien arbeiten.
Knapp 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind beim SOS-Kinderdorf e.V. im Bereich der Flüchtlingshilfe tätig. Davon sind 144 allein in 2015 und 2016 neu eingestellt worden (Stand März 2016). Dementsprechend bietet der Verein ab Juni 2016 deutschlandweit zusätzliche Qualifizierungsmaßnahmen an, beispielsweise extern begleitete Seminare zum Thema „interkulturelle Kompetenz“.
Neben diesem Seminarangebot wurden inzwischen auch weitere Bestandteile des Qualifizierungsprogramms für Berufseinsteiger (BEP) weiterentwickelt. Dem Bedarf entsprechend konzentrieren sich derzeit manche Peergruppen des Berufseinsteigerprogramms bereits stark oder sogar ausschließlich auf Fragestellungen aus dem Arbeitsbereich der stationären Angebote für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Titelfoto: © picture alliance / dpa