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Kernprozesse des pädagogischen Handelns

Menschen zu einem Stück Lebensautonomie befähigen

Eine zentrale Frage der Kinder- und Jugendhilfe lautet: Wie gelingt es, in ihren Angeboten genau die Ressourcen zu fördern, die junge Menschen benötigen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können – gerade wenn sie unter schwierigen Lebensbedingungen aufwachsen? „Auf diesem Weg in die Eigenständigkeit sind vier Aspekte von wesentlicher Bedeutung: gelingende Beziehung, Bildung, Befähigung und Beteiligung“, sagt Heiner Keupp, emeritierter Professor der Sozialpsychologie. „Die Forschung hat dafür klare Belege geliefert, und auch die Praxiserfahrungen zeigen, dass diese vier Faktoren unverzichtbar sind in der pädagogischen Arbeit.“
Professor Keupp hat in über drei Jahrzehnten zu den Voraussetzungen für Identitätsentwicklung, Handlungsbefähigung und zum Übergang in die Eigenständigkeit geforscht. Vor diesem Hintergrund analysiert er Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den pädagogischen Kernprozessen Beziehung, Bildung, Befähigung und Beteiligung.
Zum Stellenwert von Beziehung
Der Mensch lebt als soziales Wesen in Beziehung. Von Anfang an sind wir als Menschen auf andere angewiesen, z.B. indem wir als Neugeborene die Fürsorge, Liebe und Zuwendung einer erwachsenen Person brauchen, um zu überleben. „Aber Beziehung hat nicht nur einen Bindungs-, sondern auch einen Autonomieaspekt. Denn eine gelingende Bindungserfahrung ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen später den Schritt in die Selbstständigkeit gehen können“, erklärt Heiner Keupp. Dazu gehört auch die Anforderung, dass Kinder und Jugendliche lernen, eigenständige Beziehungen aufzubauen und Netzwerke zu entwickeln. Diese Entwicklungsaufgabe wird zunehmend relevanter in einer mobilen Gesellschaft, in der immer weniger Menschen dauerhaft an dem Ort leben, an dem sie aufgewachsen sind. Eine entscheidende Leistung von Heranwachsenden ist es daher, selbstbestimmt soziale Bezüge herzustellen – zu Peers, zu Lehrkräften und in der Kinder- und Jugendhilfe auch zu pädagogischen Bezugspersonen.
Handlungsbefähigung und Bildung
„Ein elementarer Faktor ist, wieweit es in unserem Bildungssystem gelingt, benachteiligte Kinder und Jugendliche so zu unterstützen, dass sie den Schritt in die Eigenständigkeit gehen können“, so Keupp. Die Befähigung zur selbstständigen Lebensführung sieht er als vordringliche Aufgabe an.
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, reicht eine passive Vermittlung von Bildungsinhalten nicht aus. „Zur Handlungsbefähigung gehört unter anderem auch die aktive Beteiligung an Bildung, denn die Partizipation am Lernprozess ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für gutes Lernen,“ stellt Keupp fest. Der Wissenschaftler hat einen breiten Bildungsbegriff. Bildung habe sehr viel mit all dem zu tun, was Menschen von klein auf erleben und welche Erfahrungen sie machen. Zu Recht sei seit einiger Zeit die Frage der informellen Bildung stärker in unser Bewusstsein gerückt.
Formelle und informelle Bildung
Neben der formellen Bildung, die sich in erster Linie auf die Kompetenzen im kognitiven Bereich konzentriert, kommt der sozialen und emotionalen Bildung eine zentrale Bedeutung bei: Lernen am Modell, Auseinandersetzung mit Vorbildern, ausprobieren dürfen, Anerkennung bekommen, lernen, sich durchzusetzen, sich selbst ernst zu nehmen und die eigenen Stärken zu entdecken. Zur Persönlichkeitsentwicklung gehört für Kinder und Jugendliche auch, eine sogenannte explorative Kompetenz zu entwickeln, die Fähigkeit, für sich selbst herauszufinden: Was ist mir wichtig, was passt zu mir, wo soll es für mich im Leben hingehen?
„In einer Gesellschaft, in der viele Zugänge über Bildungsabschlüsse laufen, müssen die Kinder diese formellen Prozesse natürlich gut durchlaufen,“ hält Heiner Keupp fest. „Zur ganzheitlichen Bildung gehören allerdings insbesondere Erfahrungen im zwischenmenschlichen Bereich. Es geht darum, eine persönliche Reflexivität zu gewinnen, also über sich und über das, was man tut, nachdenken zu können, anstatt nur Wissen wiederzugeben und sich aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus vorgefertigten Meinungen oder gar Ideologien anzuschließen. Heute kommt es sehr darauf an, mit Unsicherheiten umgehen zu können und offene Situationen nicht als Bedrohung zu erleben, sondern als Möglichkeit, daraus etwas zu machen. Das sind die Themen, die in Bildungsprozessen aktuell ganz oben stehen müssten.“
Identitätsentwicklung und Beteiligung
Eng mit der Persönlichkeitsentwicklung verknüpft ist der Begriff der Identität. Das Gelingen von Handlungsbefähigung hängt auch davon ab, inwieweit junge Menschen ein Gefühl für die eigene Person entwickeln: Wer bin ich, was kann ich, wie werde ich wahrgenommen und wie viel Anerkennung bekomme ich für das, was ich einbringe? „Jugendliche brauchen die Grunderfahrung, dass sie auch etwas bewegen können, dass sie einen Beitrag leisten können zu dem, was sie als eine lebenswerte Welt empfinden.“ Wenn Kinder und Jugendliche beteiligt sind, z.B. an der Vereinbarung von Strukturen, von Regeln, dann nehmen sie diese mit einer anderen Haltung wahr, so Keupp. Sie fordern dann beispielsweise viel konsequenter ein, dass sich alle an die vereinbarten Regeln halten.
Zu einem entsprechenden Ergebnis ist auch eine Studie zum Thema Beteiligung in der Heimerziehung gekommen, die der SOS-Kinderdorf e.V. in Kooperation mit dem Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) durchgeführt hat: Je mehr Partizipation in einem SOS-Kinderdorf ermöglicht wird und je intensiver die Kinder und Jugendlichen diese Chance wahrnehmen, desto zufriedener sind sie mit ihrer Unterbringung in einer stationären Einrichtung.
Wenn Kinder und Jugendliche in eigener Sache mitgestalten und mitentscheiden können, erleben sie sich als selbstwirksam. Diesen Begriff aus der Persönlichkeitspsychologie hat Albert Bandura in den 1970er Jahren entwickelt: „Selbstwirksamkeit bezeichnet die Erfahrung, nicht ausgeliefert zu sein gegenüber Kräften oder Mächten, die über mich bestimmen, sondern das Gefühl zu haben, selber etwas zu bewegen“, definiert Heiner Keupp. „Für viele Jugendliche ist es gar nicht einfach, diese Erfahrung zu machen, weil alles immer schon so fertig ist in dieser Welt.“ Umso wichtiger sei es, Mädchen und Jungen in der Kinder- und Jugendhilfe echte Formen der Beteiligung zu ermöglichen – und ihnen damit Gelegenheiten zu geben, sich als selbstwirksam zu erleben.
Kohärenz als Schlüsselbegriff
Die vier pädagogischen Kernprozesse Beziehung, Bildung, Befähigung und Beteiligung zielen darauf ab, dass Kinder und Jugendliche für sich ein Kohärenzgefühl entwickeln. Der Begriff der Kohärenz stammt aus der Salutogenese und hat drei Dimensionen: die Verstehbarkeit, die Handhabbarkeit und die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens. Der Münchener Psychologe bringt es so auf den Punkt: „Verstehbarkeit heißt, ich kann Dinge verstehen, die mir widerfahren. Handhabbarkeit meint, ich traue mir etwas zu, weil meine Fähigkeiten mich in die Lage versetzen, bestimmte Anforderungen zu meistern. Und die dritte Dimension ist die Bedeutungs- bzw. Sinndimension: Ich habe für mich Dinge herausgefunden, die mein Leben lebenswert machen und für die es sich lohnt, sich zu engagieren.“ Ein gut ausgeprägtes Kohärenzgefühl als Überzeugung, dass das eigene Leben sinnvoll, verständlich und handhabbar ist, wirkt sich positiv auf Lern- und Entwicklungsprozesse von jungen Menschen aus.
Auch der 13. Kinder- und Jugendhilfebericht, an dem Keupp maßgeblich beteiligt war, legt nahe, dass das Kohärenzgefühl eine zentrale Voraussetzung für die Handlungsbefähigung ist. „Die pädagogischen Aspekte Beziehung, Bildung, Befähigung und Beteiligung könnte man auch als Ressourcen für die Entwicklung eines Kohärenzgefühls bezeichnen. Die Kohärenz ist sehr stark davon abhängig, ob ich solche Ressourcen aktivieren kann, ob ich Zugang zu ihnen habe“, so Keupp.
In der Kinder- und Jugendhilfe geht es daher immer darum, Menschen zu einem Stück Lebensautonomie zu befähigen. Dies kann gelingen, indem man geeignete Bedingungen herstellt, unter denen Mädchen und Jungen positive Erfahrungen sammeln können, oder durch die Art und Weise, wie Fachkräfte professionelle Beziehungen zu ihnen aufbauen. Aufgabe der Jugendhilfe ist es, Kindern und Jugendlichen zu vermitteln: Wir trauen dir zu, etwas zu bewirken.
(August 2018)

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