Familienzentren: Orte der Begegnung und niedrigschwellige Unterstützung
Wir wollen für alle Familien ansprechbar sein. Wir erleben auch immer wieder, dass einige Angebote sehr „durchmischt“ sind. So kommen zu unserem Babytreff, zu Rückbildungskursen oder anderen klassischen Mutter-Kind-Angeboten auch – ich sage mal – „Mittelschichts-Familien“, die mit Kind einfach Anschluss im Viertel suchen.
„Wir versuchen, sehr bunt zu sein und wollen möglichst viele Bedarfe abdecken“.
Unser Schwerpunkt sind jedoch Familien, die einen höheren Unterstützungsbedarf haben. Unsere Familienzentren liegen ja bewusst in Stadtgebieten, die eine hohe Belastung haben. Als ich 2007 den Kinder- und Familientreff in der Messestadt Ost aufbaute, haben wir natürlich erstmal geschaut, wie sich der Stadtteil genau zusammensetzt. Welche Bedarfe gibt es vor Ort? Und aus dieser Analyse haben wir dann passgenaue Angebote entwickelt.
„Die Stärke von Familienzentren ist, dass man sehr genau wahrnehmen kann, welche Hilfen es im Stadtviertel braucht.“
Wir sind zudem sehr gut vernetzt mit allen Akteuren im Sozialraum: dem Jobcenter, dem Sozialbürgerhaus, der Bezirkssozialarbeit, dem Bildungslokal, der Schulsozialarbeit, mit den Kinderkrankenschwestern – und natürlich mit der Erziehungsberatungsstelle.
Eines unserer Angebote zur Stärkung der Erziehungsfähigkeit nennt sich „Kleine Schritte von Anfang an“. Es ist speziell für Familien entwickelt, die dabei noch unterstützt werden müssen. Wie komme ich mit meinem Kind zurecht? Wie kann ich verstehen, was es braucht? Unser Hauptziel in einem Viertel mit höherem Unterstützungsbedarf ist, Familien zu befähigen, diese Angebote wahrzunehmen ─ und dann auch auszuprobieren.
Flucht und Migration: Hilfe beim Ankommen und Integration
An den drei Standorten in Berg am Laim, Riem und in der Messestadt Ost betreuen wir viele Familien mit Migrationshintergrund. Auch kommen zu uns Besucher*innen mit Fluchthintergrund, die in Wohnprojekten oder Gemeinschaftsunterkünften (GUs) leben. Zum Beispiel afghanische Frauen, die im letzten Sommer geflüchtet sind. Mit dem Angebot „Familien-Oase“ im Familienzentrum Berg am Laim sprechen wir gezielt diese Klientel an. Wir wollen die Frauen und ihre Familien beim Ankommen in Deutschland möglichst gut unterstützen ─ und Integration leisten! Den Menschen Zugang zu unserer Lebenswelt gewähren und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit geben, die Besonderheiten der eigenen Kultur einzubringen.
Ganz aktuell planen wir auch Deutschkurse für Geflüchtete aus der Ukraine. Generell leisten unsere Deutschkurse sehr niedrigschwellig Unterstützung beim Ankommen. So richtet sich das Angebot „Leben in Deutschland“ insbesondere an Mütter, um ihnen zu helfen, sich hier zurechtzufinden. Neben dem Spracherwerb geht es vor allem um die Vermittlung von Alltagswissen. Wie funktionieren in Deutschland das Schulsystem, der Kindergarten oder Arztbesuche?
Multikulturelle Teams
In unseren drei Familienzentren im Münchner Osten arbeiten jeweils drei bis vier Mitarbeiter*innen mit pädagogischer Ausbildung. Vor allem Frauen in Teilzeit, weil sich die Arbeit eben gut mit der eigenen Familienarbeit verbinden lässt. Viele meiner Mitarbeiter*innen haben auch Migrationshintergrund ─ Europa- und weltweit.
„Wir sind auch im Team bunt gemischt. Darüber freue ich mich sehr.“
Und diese kulturelle Vielfalt ist ein großes Plus! So können wir z.B. bei Erstkontakt unsere Klienten in der Muttersprache ansprechen, auch wenn unser Ziel ist, Deutsch zu vermitteln, weil es ja um Integration geht und um die Möglichkeit, hier seinen Platz zu finden. In der Kommunikation nach außen sind wir selbstverständlich mehrsprachig. Neben Informationsblättern auf Englisch und Französisch haben wir auch arabisch-und türkischsprachige.
Rückblick Lockdown: Freiräume für Familien
Aufgrund der strengen Kontaktbeschränkungen konnten wir während der Lockdowns 2020 und 2021 leider keine festen Gruppenangebote oder offenen Treffs in Präsenz ermöglichen.
„Wir haben Familien unsere Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt.“
© SOS-Kinderdorf e.V., Andre Kirsch
Tagsüber und nach Terminabsprache, sodass wir immer auch genügend Zeit hatten, die Räume im Anschluss durchzulüften und die Spielsachen zu desinfizieren bzw. gegen andere auszutauschen. Dieses Angebot wurde sehr gut angenommen ─ wir waren so gut wie immer voll!
„Für Familien, die in sehr beengten Wohnverhältnissen leben, waren diese Freiräume enorm wichtig.“
Durch dieses Angebot konnten wir die Familien nicht nur „entlasten“, sondern ihnen auch Abwechslung und ein bisschen Tagesstruktur ermöglichen: „Wir ziehen uns alle jetzt an und gehen zusammen ins Familienzentrum. Da haben wir eineinhalb Stunden – und Platz“. In einer kleinen Wohnung fällt einem ja irgendwann buchstäblich die Decke auf den Kopf, und Streitereien sind dann oft vorprogrammiert.
© SOS-Kinderdorf e.V., Andre Kirsch
Da kam die Mutter, manchmal zusammen mit dem Vater, mit drei, vier oder auch fünf, sechs Kindern. Unser Raum ist groß, sodass die Kinder viel Platz zum Spielen hatten und die Eltern sich auch mal zurückziehen konnten ─ zum Beispiel mit Kopfhörern, um Musik zu hören oder um einfach mal abzuschalten. Es war schön zu sehen, wie die Kinder beschäftigt waren: mit den neuen Spielsachen oder auch mit Bastel- und Malangeboten, die wir mit ihnen gemacht haben. Es war immer eine Fachkraft ansprechbar, wenn es zum Beispiel auch darum ging, Probleme zu lösen.
„Die Familien sind zum Spielen gekommen, aber auch um sich beraten zu lassen.“
Wir haben uns fokussiert auf uns bekannte Familien mit hoher Belastung und hohem Bedarf. Diese niedrigschwellige Betreuung und Sozialberatung wurde von einigen Familien in Anspruch genommen. Denn es gab Familien, die in schwierige finanzielle Situationen gekommen sind. Dann hat die Fachkraft zusammen mit den Eltern überlegt, was getan werden muss. Gemeinsam wurden Anträge ausgefüllt, oder wir haben die Familie bei anderen Beratungsstellen angemeldet, der Schuldnerberatung zum Beispiel.
In der Regel kennen wir „unsere“ Familien und wissen, was sie brauchen. Bei vielen Familien geht es auch um ganz elementare Bedürfnisse: etwa darum, neue Kinderkleidung zu bekommen. So haben wir eine aus Spenden finanzierte kleine Kleiderkammer, aus der sich die Familien die passende Kleidung heraussuchen können.
„Während des Lockdowns haben wir Familien auch proaktiv eingeladen, weil wir gemerkt haben, dass sie sich sehr zurückziehen.“
Es gab Familien, die sehr ängstlich waren und einfach nirgendwo mehr hingegangen sind. Uns war wichtig, dass sie aus der Isolation herauskommen und sich wieder trauen, an einen anderen Ort zu gehen und Kontakt aufzunehmen.
Auch wenn in unseren Familienzentren ja nicht die klassische Hausaufgabenbetreuung stattfindet, haben wir bei einzelnen Grundschulkindern natürlich schon bemerkt, dass das Homeschooling nicht gut klappte. Und so kamen die Kinder oder auch die Eltern dann doch oft zu uns – auch dann, wenn die Drucker zuhause ausfielen oder erst gar nicht vorhanden waren.
„Wir haben seitenweise Hausaufgaben ausgedruckt.“
Eine Herausforderung bestand vor allem darin, die Eltern der Kinder im Umgang mit z.B. Laptops zu unterstützen. Damit sie selbst ihre Kinder befähigen, die von der Schule gestellten Laptops sinnvoll für die Schule zu nutzen – mit all den Programmen, die dafür wichtig sind. Denn Homeschooling auf dem Handy funktioniert eben nicht!
Digitale Angebote bis heute
Mit Beginn des Lockdowns haben wir natürlich auch auf digitale Angebote umgestellt. So gab es z.B. digitale Mutter-Kind-Angebote oder auch ein Gute-Nacht-Angebot für Familien über Zoom. Mit Geschichten, gemeinsamen Singen – und eben Gute-Nacht-Sagen. Das war eine gute Form, um Kontakte zu halten.
„Die digitalen Angebote wurden insbesondere von bereits bestehenden Gruppen gut angenommen.“
© Maria Symchych-Navrotska, iStockphoto.com
Denn es ist definitiv schwieriger, neu in eine digitale Gruppe dazuzukommen. Einzelne Bildungsangebote funktionieren aber auf Anhieb digital sehr gut – und es schalten sich auch Familien zu, die wir gar nicht kennen. Zum Beispiel bei unserem Kooperationsangebot „Lernen lernen“: Wie kann ich eine gute Lernatmosphäre bei meinem Grundschulkind schaffen?
Der Yoga-Kurs findet seit Herbst 2021 nun auch wieder digital statt, nachdem er in Präsenz startete. Digitale Angebote werden insgesamt zwar gut angenommen, aber wir stellen doch fest, dass die Präsenz bevorzugt wird. Weil dadurch auch einfach andere Bedürfnisse – zum Beispiel die sozialen Kontakte – besser erfüllt werden können.
2 Jahre Corona-Pandemie: Wie geht es den Kindern und Eltern?
In unseren Familienzentren sehen wir, dass auch die jungen Kinder neue große Bedarfe haben. Wir beobachten, dass der soziale Umgang mit anderen Kindern zum Teil ziemlich ruppig ist. Es ist jetzt wichtig, dass die Kinder in einem geschützten Raum mit anderen Kindern wieder zwanglos zusammenkommen dürfen, um soziale Erfahrungen zu machen und teilweise auch um Sozialkompetenzen wieder neu zu erlernen.
Auch fällt uns auf, dass sich die Deutschkenntnisse einiger Kinder sehr verschlechtert haben, weil zu Hause eben nur in der Muttersprache gesprochen wurde. Insbesondere Kinder, die bald in die Schule kommen, sollten jetzt dringend sprachlich gefördert werden.
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Sichtbar ist auch der Bewegungsmangel einiger Kinder. In den oft sehr beengten Wohnverhältnissen konnten sich die Kinder nicht austoben. Einige Eltern haben sich auch gar nicht getraut, überhaupt rauszugehen. Der prinzipiell große Bedarf von Kindern an Bewegung konnte insbesondere zu Zeiten des Lockdowns nicht gut erfüllt werden.
Und ja, die Ernährung ist oft auch nicht optimal – und grundsätzlich auch ein Schwerpunkt bei uns. Wir arbeiten mit sehr niedrigschwelligen Inputs, indem wir den Eltern vergegenwärtigen, wie viel Süßes zum Beispiel in einer Limonade steckt, indem wir die Zuckerstückchen danebenstellen. Wir wollen nicht belehren, aber die Aufmerksamkeit dafür schärfen.
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Und zur Corona-Pandemie kommt jetzt auch noch der Krieg in der Ukraine hinzu! Das sind neue Belastungen und Sorgen, die wir auch den kleineren Kindern anmerken; bisweilen wirken auch sie bedrückt oder gar ängstlich. Ältere Kinder thematisieren auch den Klimawandel als Bedrohung.
„Viele Kinder haben jetzt neue Unterstützungsbedarfe. Die Familienzentren sind Orte, wo Versäumtes gut nachgeholt werden kann!“
So wollen wir, dass die Kinder mit ihren Eltern jetzt zu möglichst vielen Angeboten zu uns kommen: zu gemeinsamen Bastelangeboten, Fingerspielen, kleinen Tisch- oder Kasperltheater – und natürlich zum Geschichtenvorlesen. Wir versuchen, ganz spielerisch die Sprache zu vermitteln. Das ist aktuell unser Schwerpunkt, weil diese Förderung jetzt sehr wichtig ist für die Kinder! Und wir haben viele Ideen. So lesen wir Geschichten vor und nehmen sie auf, sodass die Kinder sie auch zuhause hören können.
Es bedarf jetzt einer gemeinsamen Anstrengung, die Kinder bestmöglich zu unterstützen und ihnen wieder viele Möglichkeiten für soziale Erfahrungen und Beziehungen zu geben. Als Familienzentrum sind wir eine Einrichtung, die proaktiv dazu beitragen möchte ─ auch im engen Austausch mit unseren Kooperationspartnern.
„Wir wollen wahrgenommen werden als ein Ort, an dem man Hilfe bekommt.“
„Unsere“ Kinder sind toll, sie haben ein großes Potenzial und werden auch wieder viel lernen. Da bin ich zuversichtlich. Aber auch für die Eltern und insbesondere für die Mütter ist es jetzt wichtig, wieder in Kontakt mit anderen Familien zu sein. Um sich auszutauschen über diese belastende Zeit, über die Erfahrungen oder auch um zu hören: Wie haben es andere Familien gemacht?
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Viele Frauen empfinden die letzten beiden Jahre als eine ganz große Anstrengung, sie fühlen sich jetzt wie am Ende eines Marathons. Es braucht nun Entlastung, Freude und Spaß! Und den Ausblick auf Ausflüge, Elterncafés draußen oder gemeinsames Tanzen. Auch das kann schon helfen, die schwierige Zeit gut zu verarbeiten und Defizite auszugleichen.
„Für die offene Familienhilfe wünsche ich mir, dass nun endlich alle Angebote wieder barrierefrei öffnen dürfen!“
Denn wir brauchen unbedingt die komplette und „barrierefreie“ Öffnung, um wirklich alle unsere Familien zu erreichen – also ohne Testnachweis oder Impfzertifikat! Weil auch 3G für einige Familien eine große Hürde ist, die sie daran scheitern lässt, zu uns zu kommen. Die Extra-Organisation rund ums Testen kann in manchen (Lebens-)Lagen einfach zu viel sein. Das geht aber erst, wenn die Inzidenzen wieder sinken. Ich hoffe sehr, dass wir nun endlich von der Pandemie in eine endemische Lage kommen – und natürlich, dass wir allen geflüchteten Menschen, die zu uns kommen, jetzt gut und schnell helfen!
Yvonne Lüders, Leiterin des Bereichs offene Familienhilfe im SOS-Beratungs- und Familienzentrum München
Das Interview wurde im Februar 2022 geführt (aktualisiert im März 2022).
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