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Familien unter Druck
Corona-Situation verschärft die Belastung für Familien
Offene Unterstützungsangebote sind wegen der aktuellen Corona-Situation auf unbestimmte Zeit geschlossen. Was bedeutet dies für belastete Familien? 
Die Schließung von offenen Angeboten wie etwa Familienzentren setzt Familien unter Druck, so Dr. Yvonne Kaiser, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei SOS-Kinderdorf, ehemals Leiterin eines Familienzentrums in München. Vor allem dann, wenn Familien verschiedene Probleme gleichzeitig bewältigen müssen: wenn sie über wenig Wohnraum verfügen, aufgrund einer Migrations- oder Fluchtgeschichte nur geringe Deutschkenntnisse haben oder sich existenzielle Sorgen zuspitzen. 
Corona-Krise: Zusammensein auf engem Raum und finanzielle Not
Familien in benachteiligten Stadtteilen leben häufig in sehr beengten Wohnverhältnissen. Wegen der aktuellen Ausgangsbeschränkungen und der Schließung öffentlicher Einrichtungen wie Kita und Schule, aber auch der Familienzentren, können besonders diese Familien sich im Alltag noch weniger „aus dem Weg“ gehen als sonst. Eine Situation, in der man im täglichen Miteinander schnell an die eigenen Belastungsgrenzen kommt. Konflikte sind vorprogrammiert. Hinzu kommt, dass ohnehin bestehende Existenzsorgen sich gerade jetzt zuspitzen, wenn etwa ein Vater als Alleinverdiener von Kurzarbeit betroffen ist – oder seinen Arbeitsplatz verliert. Prekäre Beschäftigungs- bzw. Verdienstmöglichkeiten verschärfen sich. Dass die Gefahr von häuslicher Gewalt zu Lasten von Frauen und Kindern deutlich zunehmen wird, davon ist unter diesen Bedingungen auszugehen. 
Für Frauen entfallen Alltagsentlastung und Anerkennung
Die offenen Angebote in Familienzentren dienen vielen Frauen vor allem als Entlastung in ihrem Alltag. Die Begegnung mit anderen Frauen, der Besuch von (Deutsch-)Kursen, das gemeinsame Kochen oder die aktive Mitarbeit bieten ihnen die Möglichkeit, sich abzulenken und auszutauschen, sich gegenseitig zu stärken oder sich als selbstwirksam zu erleben. All das kann Frauen dabei helfen, belastende Alltags- und Familiensituationen besser zu meistern. Denn: Wenn es Müttern gut geht, dann wirkt sich dies auch positiv auf die Kinder und die ganze Familie aus. In der aktuellen Corona-Krise mangelt es diesen Frauen nun an Anerkennung und Wertschätzung. Und für einige entfällt durch die Schließung der Einrichtung auch die Aufwandsentschädigung oder das Minijob-Gehalt: Geld, das der Familie jetzt fehlt.
Fehlende Tagesstruktur und wenige Ideen für die Freizeitgestaltung
Ohne den Besuch von Kita, Schule oder Familieneinrichtungen bricht für viele Familien die von außen vorgegebene Tages- und Wochenstruktur weg. Der übliche Tag- und Nachtrhythmus, sogar der Schlaf-Wach-Rhythmus von Kindern, kann sich verschieben. Eltern haben oft wenige Ideen, wie sie ihre Kinder zuhause sinnvoll beschäftigen können, zumal Unternehmungen außer Haus wegfallen. In der Folge steigt häufig der Medienkonsum aller Familienmitglieder – auch der der Kinder. Und das meist ohne Einschränkung und Begleitung durch die Erwachsenen.
Home-Schooling in Corona-Zeiten: hohe Anforderungen ohne Unterstützung
Schüler/-innen erhalten derzeit ihre Aufgaben meist per E-Mail oder über eine Lernplattform und sollen diese zu Hause bearbeiten. Das Home-Schooling stellt jedoch alle in prekären Verhältnissen lebende Familien vor besonders große Herausforderungen: Weil sie häufig technisch nicht mit Computer, Drucker sowie Onlinezugängen ausgestattet sind. Oder weil nicht alle Eltern ihre Kinder beim Home-Schooling anleiten können – insbesondere dann nicht, wenn sie nur wenig Deutsch sprechen oder selbst einen niedrigen Schulabschluss besitzen bzw. keine Schule besucht haben. Oftmals müssen dann ältere Geschwister aushelfen. Außerdem fehlt es in beengten Wohnungen meist an ruhigen Plätzen, die Kinder brauchen, um sich konzentrieren zu können. Problematisch ist es auch, wenn die Aufgaben bei den Kindern gar nicht ankommen oder sie diese nicht bearbeiten können. Wenn sich die bereits bestehende Bildungsbenachteiligung nicht noch weiter verschärfen soll, dann brauchen besonders diese jungen Menschen und ihre Familien jetzt dringend ein hohes Maß an Unterstützung. 
Keine Förderung von Kleinkindern und keine Erziehungsberatung
Familienzentren stellen für Kleinkinder aus belasteten Familien häufig die einzige Möglichkeit dar, an Förderangeboten wie Baby- oder Spielgruppe teilzunehmen, wenn sie keine Kita besuchen. In der aktuellen Corona-Krise fehlt es Kleinkindern gerade jetzt an wichtigen Erfahrungsräumen außerhalb ihrer Familie. Für Mütter respektive Eltern finden keine Beratungsangebote, Sprechstunden oder Austauschgespräche zu Erziehungsfragen statt, die sie sonst ohne Voranmeldung besuchen können. So bleiben derzeit Orientierung und Sicherheit für den Erziehungsalltag auf der Strecke, und Familien sind sehr viel mehr auf sich allein gestellt als sie es gewohnt sind.
Corona-Krise schränkt gesunde Lebensweise ein
Auch die Ernährungssituation in Familien kann zu Corona-Zeiten prekär werden. Weil Frühstück und Mittagessen in Schule oder Kita wegfallen und eine regelmäßige und gesunde Versorgung von Kindern nicht in allen Familien gegeben ist. Kinder und ihre Eltern leiden auch unter Bewegungsmangel, wenn der Schul- und Vereinssport ebenso wie die Bewegungsangebote für Mütter und ihre Kinder nicht stattfinden. Die Möglichkeit zum Toben im Garten, zum Joggen oder Fahrradfahren haben viele Familien nicht.
Coronavirus: kaum Aufklärung über die Ausbreitung
Das neuartige Coronavirus und die damit verbundene Situation verunsichern viele Familien – vor allem, wenn sie die Verhaltensregeln aufgrund von Sprachbarrieren nicht verstehen. Manche trauen sich nicht mehr aus dem Haus, weil sie große Angst vor einer Ansteckung haben. Häufig ohne genau zu wissen, was das Coronavirus eigentlich ist, wie man sich schützt oder wie man sich in der Öffentlichkeit verhalten soll. So besuchen manche Eltern mit ihren Kindern nach wie vor Spielplätze, weil sie gar nicht wissen, dass dies aktuell untersagt ist. Und gerade die Mütter stehen jetzt unter besonders großem Druck, weil sie ihre Familien in der aktuellen Situation bestmöglich schützen möchten. 
Welche Unterstützung brauchen Familien in der aktuellen Corona-Situation?
Eine Aufklärung über die Corona-Situation in leichter Sprache sowie deren Übersetzung in verschiedene Sprachen sind jetzt unbedingt notwendig. Verständliche Videobotschaften von vertrauten Personen aus einem Familienzentrum können dazu beitragen, dass Kursteilnehmer/-innen Ängste abbauen und an Sicherheit gewinnen, wie sie sich aktuell verhalten sollen und dürfen. Zur Aufklärung gehören auch Informationen über die Symptome einer Covid-19-Erkrankung, zum richtigen Verhalten im Verdachtsfall und zu möglichen Ansprechpartnern. Und: Familien in Quarantäne brauchen Unterstützung von Menschen, die für sie einkaufen, die Medikamente besorgen, die sich telefonisch erkundigen und sie begleiten – wenn auch mit Abstand.
Verlässliche Ansprechpersonen sind wichtig
Familien benötigen jetzt außerdem dringend die Möglichkeit, sich im Krisenfall telefonisch an ihnen bekannte Helfer/-innen zu wenden, solange eine persönliche Beratung nicht stattfinden kann. Die Hemmschwelle, bei einem anonymen Notfalltelefon anzurufen, ist hingegen sehr hoch. Zudem wissen Frauen und Kinder häufig nicht, dass es Krisentelefone gibt oder unter welcher Nummer diese zu erreichen sind. 
Hilfen bei der Koordination des Tagesablaufs
Viele Kinder und Eltern brauchen in der aktuellen Corona-Situation Hilfe beim Koordinieren und Erledigen der Schulaufgaben sowie beim Aufbau einer Tagesstruktur. Eine telefonische Eins-zu-Eins-Betreuung pro Familie ist hier häufig erforderlich. So lassen sich auch eingehende Arbeitsaufträge der Schule sortieren und erläutern. Wichtig ist, dass Kindern hierfür eine verlässliche Ansprechperson zur Seite steht. Dies kann auch eine ehrenamtliche Helferin sein.
Neue Kommunikationswege in der Corona-Krise 
Familienzentren könnten bestehende Kurse weiterhin online oder per Messenger-Dienst anbieten. Denn auch wenn in der Familie kein Computer zur Verfügung steht, besitzen die allermeisten Eltern ein Smartphone: Deutschkurse lassen sich so ebenso fortführen wie Angebote im Kreativbereich (zum Beispiel Schutzmasken nähen). Und warum nicht mal Arbeitsergebnisse per Foto austauschen und ggfs. korrigieren lassen? Fachkräfte könnten Eltern mit kleinen virtuellen Bastel- und Bewegungsanregungen dabei unterstützen, die Freizeit mit ihren Kindern zu gestalten und einen Tagesplan zu entwickeln. Auch Spielideen und Anleitungen lassen sich sehr gut per Video übermitteln, ebenso leicht umzusetzende Rezepte für eine gesunde Küche. Und nicht zuletzt kann das gemeinsame Kochen per Konferenzschaltung stattfinden und sogar auf diesem Weg Spaß machen. 
Belastete Familien brauchen vor allem jetzt Rückhalt und Unterstützung in ihrer Alltagsgestaltung. Kollegen/-innen im offenen Jugendhilfebereich sind als Ansprechpersonen mehr denn je gefragt – mit flexiblen und kreativen Angeboten. 
Dr. Yvonne Kaiser, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei SOS-Kinderdorf, ehemals Leiterin eines Familienzentrums in München

Titelfoto: Kelly Sikkema / unsplash.com
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Dr. Kristin Teuber
Leiterin Sozialpädagogisches Institut (SPI)

kristin.teuber@sos-kinderdorf.de