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Junger lächelnder Mann mit Schultasche lehnt lässig an einer Backsteinmauer
Ausbildungsangebot SOS-Kinderdorf Saarbrücken

Aufholen nach der Pandemie – Einblick ins Programm zur Ausbildungsqualifizierung „Aqua“

Fehlende Schulpraktika, geschlossene Ausbildungsbetriebe – zwei Jahre Pandemie haben viele junge Menschen, die sich im Übergang von Schule zu Ausbildung sowie Ausbildung zu Beruf befinden, ausgebremst (vgl. dazu die Ergebnisse der Corona-Fachkräftebefragung aus der SOS-Längsschnittstudie). Im Projekt „Aqua“ können diese jungen Menschen Versäumtes nachholen und ihre persönlichen Kompetenzen stärken.

Junge Menschen individuell fördern

Aqua – kurz für „Ausbildungsqualifizierung“ – startete im Herbst 2021 im SOS-Kinderdorf Saarbrücken und am Zentrum für Bildung und Beruf Saar. Gezielt und individuell unterstützt das Programm Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren, die pandemiebedingten Aufholbedarf haben, sich beruflich zu orientieren sowie schulische Kenntnisse aufzubauen und nachzuholen.

Gesualda Pistone, Bereichsleitung Ausbildungsangebote, und Kaysa Matias, Sozialpädagogin Ausbildungsangebote, gehören zum Projektteam von Aqua beim SOS-Kinderdorf Saarbrücken. Im Interview geben sie Einblick in die Angebote von Aqua und in ihre Erfahrungen mit dem Projekt.

Worum geht es bei Aqua?

Portraitfoto Gesualda Pistone, Bereichsleitung Ausbildungsangebote im SOS-Kinderdorf Saarbrücken

Gesualda Pistone

Pistone: Bei Aqua geht es um die jungen Menschen, die eine berufliche Ausbildung anstreben und aufgrund der Pandemie in den letzten zwei Jahren ihre Ziele nicht verfolgen konnten oder von diesen abgekommen sind. Unsere Aufgabe im Programm ist es, mit ihnen Versäumtes nachzuholen, eventuelle Hemmnisse abzubauen sowie ihre Kompetenzen und Fähigkeiten zu stärken. Dadurch wollen wir sie motivieren und schrittweise an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt heranführen. Primär geht es aber um die Vermittlung in eine Ausbildung. Denn die meisten unserer Teilnehmer/-innen sind sehr jung und es gilt, ihnen gute Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten, damit sie ihr Bildungspotenzial ausschöpfen können.

Was bedeutete die Pandemie für junge Menschen in dieser Übergangsphase?

Pistone: Für diese jungen Menschen waren die Möglichkeiten, verschiedene Arbeitsfelder kennenzulernen, sehr eingeschränkt: Zu Coronazeiten fanden Praktika oftmals nicht statt oder Bewerbungsverfahren wurden auf Eis gelegt, Ausbildungsstätten waren geschlossen. Hinzu kam, dass Behörden sehr eingeschränkt ansprechbar waren. Eine persönliche Betreuung der jungen Menschen, beispielsweise durch das Jobcenter, gab es in vielen Fällen nicht.

Portraitfoto Kaysa Matias, Sozialpädagogin Ausbildungsangebote im SOS-Kinderdorf Saarbrücken

Kaysa Matias

Matias: Und auch andere Hürden hatten die jungen Menschen zu bewältigen: Nicht alle kamen mit der Umstellung auf das digitale Lernen zu Hause zurecht, ihnen fehlten persönliche Kontakte und Ansprechpersonen. In den zwei Jahren der Pandemie blieben also nicht nur wichtige Lerninhalte auf der Strecke. Isolation und eine fehlende Struktur sorgten bei einigen jungen Menschen im Übergang zur Ausbildung auch für Orientierungslosigkeit.

Wie kam das Angebot von Aqua zustande?

Pistone: Vom Europäischen Sozialfonds gab es Mittel für Projekte, die Jugendliche mit „pandemiebedingten Defiziten“ eine Ausbildungsqualifizierung ermöglichen sollen. Das Jobcenter kam dann mit der entsprechenden Ausschreibung für das Projekt auf uns zu. Unsere Idee war dann, uns mit dem Zentrum für Bildung und Beruf Saar zusammenzutun. Denn gemeinsam konnten wir für das ausgeschriebene Programm ein breiteres Angebot von Berufszweigen abdecken: SOS-Kinderdorf Saarbrücken hat die Kompetenzen und Ausbildungsstätten für den sozialen Bereich und die Pflege sowie Gastronomie und Hauswirtschaft, während das Zentrum für Bildung und Beruf die Bereiche Kosmetik und Körperpflege, Holz- und Metallgewerbe sowie Büromanagement anbieten kann. So haben wir uns zusammen auf die Ausschreibung beworben – und diese gewonnen.

Von welchen „pandemiebedingten Defiziten“ ist die Rede?

Matias: Man muss sich vorstellen: Die letzten Schuljahre haben die jungen Menschen, die bei uns sind, vor allem digital verbracht. Sich dann wieder auf die “Welt in Präsenz“ einzustellen, war teilweise sehr schwierig für sie. Was etwa ganz stark während der Pandemie gefehlt hat, sind Struktur durch einen geregelten Tagesablauf und ein Rhythmus. In dieser Zeit hat auch die Motivation gelitten, wodurch manche Jugendliche ihre Ziele aus dem Blick verloren haben. Wir beobachten auch Depressionen bei jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, so dass einige auch eine psychologische Betreuung benötigen.

Blick in einen leeren Unterrichtsraum mit Tafel und Stühlen, die auf Schreibtischen abgestellt sind

Die Jugendlichen brauchen aber auch Unterstützung und Motivation bei der Bewältigung von organisatorischen Dingen wie etwa Behördengänge, weil seitens der Ämter viel liegen geblieben war. Als das „normale“ Leben wieder einigermaßen anlief, kam zum Beispiel viel Post auf einmal auf sie zu – das überforderte sie erstmal. Wir gehen dann der Reihe nach alles mit ihnen durch und helfen den Jugendlichen, sich zu strukturieren.

„Was stark während der Pandemie gefehlt hat, ist die Struktur eines geregelten Tagesablaufs. In dieser Zeit hat die Motivation gelitten, wodurch manche Jugendliche ihre Ziele aus dem Blick verloren haben.“


Vielfach sind auch sprachliche Probleme entstanden, denn die Kommunikationsfähigkeit hat in der Zeit der Isolation sehr gelitten – besonders bei jenen Jugendlichen, die die Einschränkungen durch einen hohen Medienkonsum kompensiert haben. Die gilt es an die Hand zu nehmen und wir versuchen, eine Balance herzustellen, indem wir wieder mehr „analoge“ Kontakte mit ihnen pflegen. Dafür organisieren wir gemeinsame Aktivitäten – gehen etwa einfach mal zum Kegeln oder raus in die Natur und sammeln Bärlauch, kochen gemeinsam, setzen uns hin und reden über die Woche und darüber, was gut oder nicht so gut läuft und was sie sich wünschen. Mehr soziale Beziehungen zu erleben,  hilft den Jugendlichen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen – und sie nehmen es an.

Mädchen und Junge stehen am Flipchart und pinnen verschiedene Kärtchen mit Begriffen an das Board

Auch im Unterricht arbeiten wir stark mit kommunikativen Elementen, wie beispielsweise Rollenspielen, damit sie entsprechend ihre Fähigkeiten stärken können. Es freut mich sehr , dass wir bei jenen, die nun schon länger dabei sind, eine tolle Entwicklung sehen und wir diese aktiv fördern können.

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Wie ist das Programm von Aqua aufgebaut?

Pistone: Die individuelle Zuweisung  von Teilnehmer*innen  ist zunächst insgesamt auf sechs Monate angelegt und beinhaltet für die Teilnehmenden ein sehr umfangreiches Programm mit 39 Wochenstunden von Montag bis Freitag. Dazu gehören Unterrichtseinheiten in Allgemeinbildung, sowie die zielgruppengerechte Vermittlung der Querschnittsziele der EU, wie beispielsweise Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern, Digitalisierung, Chancengleichheit  und Nachhaltigkeit und berufsbezogene Inhalte in den Bereichen Soziales, Pflege und Hauswirtschaft.

Junge Menschen mit Mund-Nasen-Maske messen mit einem Gerät den Blutdruck einer Person

Ein Teilnehmer lernt das Blutdruckmessen.

Das sind die Berufszweige, die wir im SOS-Kinderdorf Saarbrücken anbieten und in welchen die Jugendlichen praktische Erfahrungen sammeln können. Neben den Kursräumen für den Unterricht befinden sich im SOS-Kinderdorf auch die Ausbildungsstätten fürs Erproben der Berufsfelder.

Matias: Wenn die Teilnehmer/-innen bei uns starten, erhalten sie natürlich etwas Anlaufzeit, um in der Gruppe anzukommen. In der ersten Woche machen wir auch kurze Tests zu Allgemeinbildung, Deutsch und Mathematik, damit wir ein Bild vom aktuellen Wissensstand bekommen. Dadurch können wir die Angebote so auf die Jugendlichen abstimmen, dass sie weder unterfordert noch überfordert sind. Aber in der Einstiegsphase geht es auch darum herauszufinden, in welchen Bereichen eine Teilnehmerin oder ein Teilnehmer Schwierigkeiten hat, wo durch die Pandemie zum Beispiel Wissenslücken entstanden sind und auch soziale Kompetenzen gestärkt werden müssen.

„Wir berücksichtigen auch persönliche Themen wie Empathie, Kommunikationsfähigkeit oder allgemein den Umgang mit Nähe und Distanz. Hier hat die Isolation während der Coronazeit erkennbar Spuren hinterlassen.“

Außenansicht des Gebäudes von SOS-Kinderdorf Saarbrücken

SOS-Kinderdorf Saarbrücken.

Dabei berücksichtigen wir auch persönliche Themen wie Empathie, Kommunikationsfähigkeit oder allgemein den Umgang mit Nähe und Distanz. Hier hat die Isolation während der Coronazeit erkennbar Spuren hinterlassen. In unserer Betreuung können wir dafür auf psychologische Berater/-innen sowie einen Ergotherapeuten zurückgreifen, der beispielsweise Konzentrationstechniken vermittelt und Neurofeedback anbietet [eine computergesteuerte Form der Verhaltenstherapie, Anm.]. Auf der Basis von Tests und Gesprächen erstellen wir dann recht bald einen individuellen Förderplan, der auch mit dem Jobcenter abgestimmt wird. Das Ziel ist, dass unsere Teilnehmer/-innen sich selbst besser einschätzen lernen und sie so ihre persönlichen Voraussetzungen zu den Anforderungen von Berufen ins Verhältnis setzen können.

Wie sieht der Unterricht für die jungen Teilnehmer/-innen aus?

Zwei junge Menschen stehen an einem Krankenbett und lernen die praktische Anwendung der Pflege an einer Pflegepuppe

Ausbildungsbereich Pflege: Üben an der Puppe.

Matias: Zum konkreten Unterrichtsplan gehört sehr viel berufliche Orientierung, bei der die Jugendlichen verschiedene in Frage kommende Berufsfelder kennenlernen. Sie erfahren zum Beispiel, welche Anforderungen damit einhergehen, erhalten einen Überblick über den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, nehmen an Fachexkursionen teil und bekommen Informationen zum Arbeitsrecht. Zum Unterricht gehören allgemeinbildende und berufsbezogene Fächer wie Mathematik, Sozial- und Wirtschaftskunde. Ein wichtiger Block ist zudem die Vermittlung von digitalen Kompetenzen sowie die Erweiterung von Sprach-, insbesondere Deutschkenntnissen, die für die jeweiligen Berufszweige relevant sind. Auch ein Bewerbungstraining gehört zum Unterricht dazu. Sobald wir merken, dass die jungen Menschen in den geregelten Alltag hineingefunden haben und bereit sind, beginnen sie in die Berufszweige reinzuschnuppern und sich praktisch auszuprobieren.

Wie erleben die jungen Menschen selbst das Programm?

Pistone: Ich kann sagen, dass die 14 aktiven Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die wir bei SOS-Kinderdorf aktuell betreuen, mit Freude dabei und sehr motiviert sind. Zu Beginn des Programms kamen einige Jugendliche und junge Erwachsenen nur einmal in der Woche zu uns. Diese mussten wir immer wieder motivieren und ermutigen, sich mehr zu engagieren. Jetzt, einige Monate später, sind sie regelmäßig dabei, das sehen wir als einen großen Erfolg an.

Matias: Das stimmt – wir haben anfangs oft hinterhertelefoniert oder Hausbesuche gemacht, jetzt kommen sie freiwillig und gern. Wir haben Teilnehmer/-innen, die auch dann noch zu uns kommen, wenn sie einen Ausbildungsplatz in Aussicht haben, einfach weil ihnen der strukturierte Tagesablauf Halt gibt.

„Die Jüngeren nehmen gerne am Programm teil, weil sie sich wohlfühlen und froh sind, dass sie etwas Sinnhaftes tun. Das unmittelbare Erleben von Selbstwirksamkeit spielt für sie eine wichtige Rolle.“


Jugendliche mit Mund-Nasen-Maske begutachten ein mit Gemüsepflanzen bepflanztes Hochbeet

Auch das Hochbeet gehört gepflegt.

Pistone: Aber auch die Jüngeren, die noch in der Orientierungsphase sind, kommen jeden Tag und nehmen am Programm teil, weil sie sich wohlfühlen und froh sind, dass sie etwas Sinnhaftes tun. Das unmittelbare Erleben von Selbstwirksamkeit spielt für sie eine wichtige Rolle. Wenn die Jugendlichen zum Beispiel im Kochprojekt etwas Neues kreieren, sind sie oft glücklich mit dem, was sie selbst hergestellt haben. Sie freuen sich dann schon aufs nächste Projekt.

Welchen Herausforderungen begegnen Sie in der Arbeit für Aqua?

Matias: Wir merken schon, dass sich die jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmer oftmals einfacher dazu motivieren lassen, regelmäßig zum Unterricht zu kommen. Bei den etwas Älteren, etwa 22- bis 23-Jährigen, die unter Umständen schon länger ohne eine Beschäftigung nur zu Hause waren, ist das schwieriger. Es fällt ihnen mitunter schwerer, einen eigenen Antrieb zu entwickeln und sie brauchen Zeit, bisherige Gewohnheiten abzulegen.

Pistone: Und da sind wir beim Thema Laufzeit der individuellen Maßnahme. Dieses ist insgesamt auf eine Dauer von sechs Monaten angelegt und je nachdem, wie viel Zeit jemand noch zum Aufholen von schulischen Kenntnissen, für die Stärkung von sozialen oder kommunikativen Kompetenzen sowie für die eigene Orientierung braucht, ist eine Verlängerung der Maßnahmedauer sinnvoll. Die Maßnahme darf auch prinzipiell verlängert werden, wenn es zielführend ist und sich alle Beteiligten für diesen Schritt aussprechen. Der Druck bleibt aufgrund des Begründungszwangs allerdings bestehen.

Was wünschen Sie sich für die Jugendlichen von Politik und Gesellschaft?

Junge Frau mit Brille hält ein Klemmbrett in der Hand und erklärt einem neben ihr sitzenden jungen männlichen Jugendlichen etwas

Matias: Da knüpfe ich an das Thema mit der Laufzeit an. Die Erwartung des Jobcenters, sich nach zwei Pandemiejahren innerhalb von sechs Monaten fit für den Ausbildungsstart zu machen, ist für manche junge Menschen zu hoch. Die Ausbildungen beginnen außerdem zu festen Zeitpunkten im Jahr. Je nachdem, wann jemand bei uns einsteigt, ist es unter Umständen nicht machbar, die Frist von sechs Monaten einzuhalten. Hier würden wir uns wünschen, flexibler zu sein. Das heißt, dass jemand problemlos länger bleiben kann um einen adäquaten Übergang zu gestalten, wenn ein Ausbildungsplatz in Aussicht steht.

Ein anderer Punkt ist, dass gerade unsere Teilnehmer/-innen mit Migrationshintergrund zum Teil sehr lange auf Gleichstellungsnachweise für ihre Schulabschlüsse warten müssen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum bspw. jemand aus Somalia sechs Monate lang auf die Anerkennung des Abiturs warten muss, während er oder sie schon lange Deutschkurse belegt, Maßnahmen zur Integration besucht usw. Da kommt natürlich auch Frustration auf. Solche Prozesse müssten unbedingt beschleunigt  werden. Dann können auch wir in einem Programm wie Aqua gezielter und schneller arbeiten.

(Juni 2022)

Titelfoto: PeopleImages, iStockphoto.com

Umgang mit Corona: Einblicke in die Praxis

Ihre Ansprechpartnerinnen

Bei Fragen zum Umgang mit dem Coronavirus beim SOS-Kinderdorf e.V. und zu den besonderen Herausforderungen, die sich für die Jugendhilfe aktuell stellen, wenden Sie sich gerne an:

SOS-Kinderdorf e.V.
Ressort Pädagogik

Ilona Fuchs
Leiterin Referat Angebots- und Qualitätsentwicklung

ilona.fuchs@sos-kinderdorf.de

Dr. Kristin Teuber
Leiterin Sozialpädagogisches Institut (SPI)

kristin.teuber@sos-kinderdorf.de

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