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Karolin Herling
Zukünftige SOS-Kinderdorfmutter in Gera

Von der Karrierefrau zur Kinderdorfmutter

Da steht der Besucher und staunt: Eine Zehnjährige hat sich in einen Wutanfall hineingesteigert. Ein Achtjähriger verbreitet einen Lärm wie ein startender Ferrari. Drei weitere Jungs rasen um den gedeckten Abendbrottisch. Stühle fallen, Teller klappern, Schreie ertönen. Es ist ein Lärm wie bei einem Heavy-Metal-Festival. Mittendrin steht Karolin Herling. Sie zeigt keine Anzeichen von Stress, ihre Stimme bleibt leise, die Körperhaltung entspannt. So verhält sich also eine zukünftige Kinderdorfmutter: Besonnen und liebevoll. Ihr Arbeitsplatz: das SOS-Kinderdorf Gera.

Alltag im „Haus Sonnenschein“. Mit großer Gelassenheit bringt sie die Kinder zur Räson. Laute Worte? Fehlanzeige. Und das Wunder geschieht. Ein paar Minuten später sitzen alle Rabauken am Tisch, kauen friedlich ihre Stullen und mampfen frisch geschnittenes Gemüse. An der Stirnseite: Karolin, die sich fröhlich mit Siggi, 5, und Kilian, 3, unterhält.

Karolin Herling SOS-Kinderdorfmutter

„Ich wollte mindestens vier Kinder haben, einen ganzen Sack voll. Das hat leider nicht geklappt“, sagt die 47-jährige Mutter einer erwachsenen Tochter. Ohne Bedauern und mit einem Lächeln auf den Lippen. „Jetzt habe ich acht Kinder auf einmal. Für mich ist das kein Stress. Im Gegenteil - es erfüllt mich mit Stolz!“ SOS hat Karolin noch nie gefunkt, hier in ihrem Haus mit dem urigen Fachwerkdachstuhl. Es ist frisch saniert und umgebaut, bietet sechs gemütliche Kinderzimmer, eine geräumige Küche mit riesigem Esstisch, daneben eine Einliegerwohnung. Der Aufenthaltsraum mit der riesigen gelben Couch und dem recht hoch gehängten Fernseher hält locker einer kindlichen Invasion stand.

In den Badezimmern hängen hübsche Handtücher, vor den Spiegeln stehen bunte Zahnputzbecher. Doch hier wohnen nicht die sieben Zwerge mit Schneewittchen, sondern acht zum Teil schwer traumatisierte Kinder mit ihren Erziehern. Es sind Kinder mit unterschiedlichen Herkunftsgeschichten. Eines haben sie alle gemeinsam: Ihre Eltern können sich nicht angemessen um sie kümmern. Trotzdem herrscht keine gedrückte Stimmung. Als hätte eine gute Fee Karos Wunsch nach einer Großfamilie erfüllt.

Alles folgt einem täglichen Rhythmus von Kindergarten und Schule, Wochenend-Planungen, Einkaufs-Überlegungen, Spielplatz-Abenteuern und Ferienvorbereitungen. Liebevoll gemanagt von einer Frau, die vor zwei Jahren noch in der Personalabteilung einer großen internationalen Firma saß. „Und das genau war der Punkt: Nach fast zwei Jahrzehnten als Personalerin habe ich mich mit 45 gefragt, ob ich bereit bin für den berühmten Wendepunkt im Leben. Ich war bereit. Ich wollte etwas Tiefergehendes tun. Etwas, das mich wirklich ausfüllt.“

Und wie so oft führte der Zufall Regie. Eine Zeitungsanzeige von SOS-Kinderdorf weckt nicht nur ihr Interesse, sondern erinnert auch an ihren alten Wunsch nach einer Großfamilie. Die studierte Juristin sattelt nach reiflicher Überlegung um. Statt Eisenach wird das thüringische Gera ihr neuer Lebensmittelpunkt. Karolin Herling drückt wieder die Schulbank. Die Ausbildung zur Erzieherin dauert vier Jahre, nebenher besucht sie Seminare, um fit für ihre verantwortungsvolle Tätigkeit als Kinderdorfmutter zu sein.

„Ich verdiene jetzt nur noch einen Bruchteil von dem, was ich früher hatte. Ich fange quasi nochmal von vorn an und muss mich mit Hausaufgaben und Prüfungen herumschlagen. Neben meiner Ausbildung arbeite ich im Kinderdorf, oft in langen Schichten. Aber ich weiß jeden Tag, wofür ich das tue. Für die Kinder. Die brauchen mich.“ Noch wohnt Karolin Herling in einem Einzimmer-Appartement im Geraer Plattenbau. Ihre Tochter ist weit weg, ebenso das 3-jährige Enkelkind. Nach Abschluss ihrer Ausbildung wird die 47-jährige eine Wohnung im SOS-Kinderdorf beziehen. Es ist ein 24-Stunden-Job. Einen, den man aushalten muss.

Karolin Herling

Gera ist nicht Eisenach, schon gar nicht Berlin, wo der Freund von Karolin Herling lebt. Während ihrer Ausbildung bekommt sie noch nicht das volle Gehalt einer Kinderdorfmutter. Die Arbeit ist fordernd. „Das haben mir auch meine Freunde zu Bedenken gegeben, aber ich mache diese Abstriche gern. Was ich den Kindern an Liebe, Zuwendung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit geben kann, lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken. Andere nennen es Berufung, ich nenne es meine ganz persönliche Mission.“

Im Teamwork zu arbeiten, hat die gebürtige Thüringerin gelernt. Ohne Team geht das nicht: Kindern ein neues Zuhause geben, Normalität, einen Alltag - und das in vielen Fällen bis zum Erwachsenenwerden. Bald ist sie Ansprechpartnerin für 32 Kinder und 20 Erzieher. Auch für die Eltern, die zu Besuch kommen und Kontakt zu ihren Kindern halten. Dass sie eine enorme Verantwortung übernimmt, ist Karolin bewusst. „Jedem von uns ist klar, dass wir es hier nicht mit normalen Lebensläufen zu tun haben. Aber wir geben den Kindern unsere Wertevorstellungen weiter. Viel Anerkennung und Liebe, die ihnen früher oft gefehlt hat. Wir hoffen, dass am Ende ein Mensch das Kinderdorf verlässt, dessen Wunden geheilt sind. Der auf sich allein gestellt, ein ganz normales Leben führen kann.“

Am Abend, wenn die Kinder satt, aber noch zu aufgedreht zum Schlafen sind, steigt der Lärmpegel wieder bedrohlich an. Ein Kind fällt die Treppe herunter, ein anderes protestiert, weil es den Sinn des Zähneputzens nicht erkennen kann. Karo nimmt das Chaos gelassen. „Ich werde immer wieder gefragt, ob ich manchmal an meine Grenzen stoße. Tue ich nicht. Ich wusste, worauf ich mich einlasse und habe mich drauf eingestellt. Nach jedem Sturm kommt die Ruhe. Immer!“

Und sie behält recht. Allerdings ist es schon 22.30 Uhr, bis alle acht Kinder friedlich schlafen. Zeit, um noch Büroarbeit zu erledigen. Gegen Mitternacht bezieht Karolin Herling Quartier in ihrem kleinen Zimmer im ersten Stock. Ungestörte Nachtruhe? Die gibt es, aber nicht oft. Denn nachts schleichen sich Dämonen in die Träume vieler Kinder. Dann heißt es trösten, kuscheln, ein Schlaflied summen. Sie hat ein großes Herz, und ihre „Mission“ hat gerade erst begonnen.

Im Porträt: SOS-Kinderdorfmutter Karolin Herling