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Dorfmeister der Herzen

Dorfmeister der Herzen

„Das ist schon ein Paradies hier“ – der Satz fällt an diesem sonnigen Herbsttag im SOS-Kinderdorf häufiger. Und in der Tat mag man dem kaum widersprechen, denn für Kinder kann es hier oben am Hügel über Merzig/Saar richtig schön sein. Eingebettet in die grünen Wälder des nördlichen Saarlands, steht die Einrichtung schon seit 55 Jahren und zählt damit zu einer der ältesten in der 60-jährigen Geschichte der SOS-Kinderdörfer. Ein Paradies also. Darin einen Job als Bundesfreiwilliger zu finden, das muss ja dann wohl der Himmel auf Erden sein. Oder? Für Sven Bossmann, der ein Jahr lang hier Dienst gemacht hat, ist das auf jeden Fall so. Er hat sich die ganze Zeit über richtig wohl gefühlt und geht gestärkt in die Zukunft. Und für Annika Frangen, die gerade erst beginnt, scheint sich auch ein Wunsch erfüllt zu haben – die junge Frau mit der Lockenpracht lacht und strahlt die ganze Zeit und macht aus ihrer Freude über den Alltag im Kinderdorf keinen Hehl.
Werfen wir einen Blick auf die SOS-Idee. Die Dörfer mit ihrer lange Zeit einmaligen Struktur sind Vorbild für zahllose Einrichtungen, die sich um „elternlose“ Kinder kümmern. Der Gründer der SOS-Kinderdörfer Hermann Gmeiner – selbst ohne Mutter groß geworden – hatte nach dem Zweiten Weltkrieg das Ziel, möglichst viele Kriegswaisen in familienähnlichen Strukturen aufwachsen zu lassen. Das ist mindestens eine „Mutter“, die vier bis sechs Kinder in einem Haus betreut. Hinzu kommt meist noch eine Haushelferin, die die Einkäufe erledigt, putzt und kocht. 1948 entstand das erste Dorf in Österreich, 1956 am bayerischen Ammersee das erste auf deutschem Boden. „60 Jahre später ist SOS-Kinderdorf den Überzeugungen seines Gründers treu geblieben“ heißt es in einem Imagetext der Organisation: „In SOS-Kinderdörfern wachsen Kinder, deren leibliche Eltern sich aus verschiedenen Gründen nicht um sie kümmern können, in einem familiären Umfeld auf. Sie erfahren Schutz und Geborgenheit und erhalten das Rüstzeug für ein selbstbestimmtes und gelingendes Leben.“ Weltweit gibt es inzwischen in 42 Ländern der Welt 127 solcher Einrichtungen. Das Merziger Dorf finanziert sich wie alle anderen SOS-Einrichtungen durch Spenden, Förder-Zuwendungen der Kommunen für die schutzbedürftigen Kinder, Projektmittel und öffentliche Zuwendungen.
In die Gemeinschaft integriert
Merzig mit seinen 30.000 Einwohnern hat das Glück, dass eine Porzellanfabrik in der Region ihren Firmensitz hat, und dass das Unternehmen von einer sehr sozial eingestellten Familie geleitet wird. Die wollte Gmeiners Idee der SOS-Kinderdörfer unterstützen und förderte den Aufbau eines Dorfes. Mitten in der Natur und doch mit einem sehr guten Anschluss an das Städtchen, ist das SOS-Kinderdorf heute integraler Bestandteil der Gemeinde. „Neulich hat mich an der Supermarktkasse eine Dame angesprochen“, erzählt die frisch eingearbeitete Bundesfreiwillige Annika. „Ich kannte die gar nicht, aber sie hat mir erzählt, dass der Schwager einer Bekannten auch im SOS-Kinderdorf gelebt hat.“ Erzählt’s und zeigt wieder ihr strahlendes Lachen, mit dem sie in den nächsten Monaten sicherlich so manches Kinderherz erobern wird. Denn obwohl die BFDler im Merziger Kinderdorf keine erzieherischen oder familienbezogenen Aufgaben übernehmen, sollen sie so viele Kontakte wie möglich mit den Kindern haben. Dazu kommt es täglich, denn die drei Bundesfreiwilligen – in der Übergangszeit von zwei Diensten auch mehr – werden in der „Dorfmeisterei“ eingesetzt.
Deren Chef ist Frank Olliger, ein gemütlicher und einfühlsamer gelernter Elektromechaniker, der seit über fünf Jahren die Truppe der „Mädchen für alles“ leitet. „Wenn irgendwo eine Glühbirne fehlt, drehen wir die ein. Wir mähen Rasen und beseitigen das Laub. Wir machen die Umzüge zwischen den Häusern und streichen Zimmer. Na, was halt so anfällt.“ Zusätzlich hilft das Dorfmeisterteam bei den Vorbereitungen und bei der Durchführung des jährlichen Apfelfestes, der Sankt-Martins-Feiern, beim Nikolaus und natürlich bei den Weihnachtsfeiern. Das jährliche Fußballturnier, das die Freiwilligen zu einem großen Teil managen, zählt zu den Highlights im Dorf. Und dann organisiert die Dorfmeisterei auch noch den Fahrdienst. Ständig müssen Kinder zum Fußball- oder Musikunterricht oder zu anderen Freizeitaktivitäten gebracht werden, denn das SOS-Dorf liegt schön, aber schwer erreichbar. Weshalb Sven und Annika und die beiden anderen Bundesfreiwilligen Michelle Wilkerson und Nicolas Schäfer mit den VW-Bussen des Dorfes viel unterwegs sind. Zwei haben immer jeweils eine Woche lang Fahrdienst, zwei sind in der Zeit unter Frank Olligers Regie für die Dorf-Reparaturen zuständig.
Und davon gibt es mehr als genug. Erst im vorigen Jahr haben die BFDler von der Dorfmeisterei einen Sandkasten mit angeschlossenem Matschplatz angelegt. 60 Tonnen Sand wurden dafür mit Schubkarren und anderem Gerät durch das Dorfgelände gekarrt. Heute erlaubt eine Pumpe mit einem kleinen Rinnensystem, dass die SOS-Kinder nicht nur klettern und rutschen sondern wirklich im wahrsten Sinne des Wortes im Matsch spielen können. Auch für die direkt daneben aufgebaute Kombi-Spielanlage mit Seilrutsche und Klettergerüst haben die Freiwilligen unzählige Schubkarren voller Rinden- und Holzstückchen aufgeschüttet. Heute wartet ein Trockner vor einem Haus. Die Hausmutter fragt besorgt, wie der wohl in den Keller gelangt. „Machen wir schon“, sagt Olliger in seiner ruhigen Art. Und mit einem Augenzwinkern zu Annika gewandt: „Ist nicht so schlimm, der ist leichter als eine Waschmaschine.“ Man merkt an solchen Kleinigkeiten, wie nett und kollegial die Stimmung im gesamten Team des Kinderdorfes ist. Das mache auch den Charme der Arbeit aus, bestätigt Sven rückblickend auf sein Dienstjahr: „Wir arbeiten in einem jungen Team mit echt netten Leuten. Und man kommt während den Fahrdiensten mit so vielen Kindern in einen echt schönen Kontakt, und man lernt dabei so viel.“
Vielseitige Aufgaben
Es ist genau diese Vielseitigkeit der Aufgaben, die Sven und Annika immer wieder betonen. Es ist diese Abwechslung, die sie an ihrer Tätigkeit besonders mögen, deshalb schätzen sie das Kinderdorf umso mehr. Und Frank Olliger ist nicht der Typ, der seine Leute hetzt oder am Feierabend auf die Uhr guckt – er weiß, dass die Freiwilligen hier sind, weil sie sich für die Gesellschaft engagieren wollen und etwas für ihr Leben dazu lernen wollen. Lernen müssen alle auch in Zukunft wieder, bestätigt auch der Einrichtungsleiter Joachim Selzer. Denn das SOS Kinderdorf wird sich – wie übrigens alle anderen SOS-Einrichtungen – verstärkt auch um die Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen kümmern. „Da kommen so viele unbegleitete Kinder und Jugendliche“, um die sich die SOS-Experten gerne kümmern wollen. Die Merziger haben dabei das Glück, dass in einer angeschlossenen Sozialeinrichtung eine Libanesin arbeitet, die als Dolmetscherin fungieren wird. Denn schon jetzt wohnen zwei syrische Familien mit ihren Kindern auf dem Gelände, und es werden in mehreren Familien Extraplätze für Kinder geschaffen. Und genau dort ist die Hilfsbereitschaft auch besonders groß, bestätigt Selzer.
Quelle: Jörg Wild, echt, Ausgabe 5/2015