In einer Familie wachsen Geschwister üblicherweise gemeinsam auf. Nicht nur beim SOS-Kinderdorf e.V. favorisiert man daher die Idee, Geschwister auch im Fall einer Fremdunterbringung möglichst nicht zu trennen. Auch andere Fachleute in der Jugendhilfe denken ähnlich.
„Grundsätzlich ist der Gedanke: Krise in der Familie, lass uns wenigstens den Rest zusammenhalten, die gehören zusammen, fühlen sich auch so, geben sich möglicherweise Sicherheit gegenseitig. Dann nochmal weiter trennen, empfinden wir schon als weitere Schädigung.“
Jugendamtsmitarbeiter/in *
Aus unterschiedlichen Gründen erleben dennoch viele Geschwister eine Trennung, wenn sie nicht in ihrer Herkunftsfamilie bleiben können. Eine Ursache ist das der Kinder- und Jugendhilfe zugrunde liegende Prinzip der Orientierung am Einzelfall.
Der ganz überwiegende Teil aller Kinder und Jugendlichen in den stationären Erziehungshilfen hat Geschwister.
Im Durchschnitt werden knapp 20 Prozent aller fremduntergebrachten Kinder und Jugendlichen mit Geschwistern gemeinsam am gleichen Unterbringungsort aufgenommen (Daten: 2008).*
Hilfemaßnahmen sind dementsprechend immer für individuelle Einzelpersonen zu prüfen und zu gewähren. Als Folge davon werden Geschwister häufig einzeln und nacheinander aus ihren Familien heraus an verschiedenen Orten fremdplatziert. Denn die fallführenden Fachkräfte der Jugendämter stehen zusätzlich vor einem praktischen Problem: Es mangelt an Einrichtungen und Pflegefamilien, die Geschwister unterschiedlichen Alters und Geschlechts gemeinsam aufnehmen und betreuen können. Muss es, wie in Fällen der Inobhutnahme, besonders schnell gehen oder ist die Fallkonstellation schwierig, sind die Aussichten von Geschwistern, zusammenzubleiben, besonders gering. Umso wichtiger ist, dass Fachkräfte auch die Kontakte der betreuten jungen Menschen zu andernorts lebenden Geschwistern unterstützen und begleiten.
Geschwisterleben im SOS-Kinderdorf: verschiedene Optionen
Die SOS-Kinderdörfer können Geschwistern aufgrund ihrer Struktur einen gemeinsamen Lebensort bieten. Je nach pädagogischen Erwägungen und aktuellem Platzangebot finden Schwestern und Brüder in einem SOS-Kinderdorf Aufnahme unter einem Dach oder zumindest nahe beieinander. Ein differenziertes Angebot an Kinderdorffamilien und Wohngruppen ermöglicht es, auch Geschwister sehr unterschiedlichen Alters räumlich nahe und mit reichlich Gelegenheit zum alltäglichen Kontakt zu beherbergen.
Fast 90 Prozent der in einem deutschen SOS-Kinderdorf lebenden Kinder und Jugendlichen haben Geschwister.
Rund 80 Prozent der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen leben zumindest zeitweilig mit einem oder mehreren Geschwistern im SOS-Kinderdorf. Allerdings lebt nur zirka ein Drittel mit der gesamten Geschwistergruppe im SOS-Kinderdorf.
65 Prozent der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen leben mit mindestens einem Geschwister in derselben SOS-Kinderdorffamilie.
25 Prozent der Kinder und Jugendlichen leben mit Geschwistern zwar innerhalb des gleichen SOS-Kinderdorfes aber nicht in derselben Kinderdorffamilie.**
Der SOS-Kinderdorf e.V. kommt mit seinem Angebot auch dem Wunsch vieler Kinder nach einer familienähnlichen Lebenssituation entgegen. Das
Fallstudienprojekt im Forschungsschwerpunkt Geschwister von SOS-Kinderdorf hat gezeigt: Den interviewten jungen Menschen war es sehr wichtig, sich wie in einem wirklichen Zuhause zu fühlen: mit einer verlässlichen zentralen Bezugsperson, die Wertschätzung und Geborgenheit vermittelt, und eben mit Geschwistern.
Pflegt ein Jugendhilfeträger eine Kultur, die Geschwisterlichkeit als wesentliche Ressource versteht, ist die fachliche Arbeit zum Thema entsprechend grundlegend. Der SOS-Kinderdorfverein förderte mit einem
Forschungs- und Entwicklungsprojekt das Fallverstehen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ein Aspekt dabei war die Kooperation von Fachteams über die Bereichsgrenzen hinweg. Wenn Geschwister auf verschiedene Kinderdorffamilien oder Wohngruppen eines Kinderdorfs verteilt leben, ist Zusammenarbeit unerlässlich.
Geschwister: Halt und Stütze fürs ganze Leben
Werden die geschwisterlichen Verbindungen während der Fremdbetreuung gefördert, können sie auch im Leben der erwachsenen Geschwister bedeutsam sein. Im Gelingensfall bilden Schwestern und Brüder ein lebenslanges Netzwerk gegenseitiger Unterstützung.
„Meine Geschwister sind mir heute noch wichtig. Ich weiß ganz genau, hätt’ ich meine Geschwister damals nicht gehabt, wär’ ich, würd’ ich heute hier nicht sitzen.“
Ehemaliges SOS-Kinderdorfkind ***
* Gabriele Bindel-Kögel (2011) Gemeinsam oder getrennt? Zur Rechtspraxis der außerfamiliären Unterbringung von Geschwisterkindern in Deutschland. Herausgegeben vom Sozialpädagogischen Institut des SOS-Kinderdorf e.V.
** Sozialpädagogisches Institut des SOS-Kinderdorf e. V. (2008). Interne Datenerhebung.
*** Corinna Petri, Kristina Radix, Klaus Wolf (in Druck). Ressourcen, Belastungen und fachliches Handeln in der stationären Betreuung von Geschwisterkindern. Herausgegeben vom Sozialpädagogischen Institut des SOS-Kinderdorf e.V., Materialien 14. München 2012: Eigenverlag.
Titelfoto: blackdog110, photocase.de
(August 2018)