Sven Petersen, Bereichsleiter im SOS-Kinderdorf Harksheide
Handlungssicherheit in der KriseEs ist zwar ruhig bei uns, solange wir keine Infektionen im Kinderdorf haben, aber diesen Zustand herzustellen und aufrechtzuerhalten, ist sehr zeitintensiv. Wie überall in der Gesellschaft gibt es auch bei uns eine Reihe von Kolleg/-innen, die durch die Berichterstattung in der Corona-Krise sehr verunsichert sind. Ich führe daher viele kurze Gespräche mit meinen Mitarbeiter/-innen, auch zwischen Tür und Angel. Viele der Absprachen haben die Funktion, den Kolleg/-innen Sicherheit zu geben: In meiner Wahrnehmung ist es gerade auch eine vorrangige Leitungsaufgabe, mit der notwendigen Gelassenheit und Souveränität den Mitarbeiter/-innen möglichst viel Handlungssicherheit zu geben und für eine gute Grundstimmung in der Einrichtung zu sorgen. Solange dies gelingt, haben die Kolleg/-innen auch den nötigen Rückhalt, um die Situation im Alltag mit den Kindern gut zu gestalten. Bisher gelingt es uns wirklich gut, die Balance in dieser Zeit zu halten.
Lockdown im Kinderdorf
Das Arbeiten auf der „Quarantäneinsel“ in unserer Einrichtung funktioniert momentan sehr gut. Die Kinder und die Mitarbeitenden erleben die Zeit als sehr entschleunigt: keine Schule, keine Termine mit dem Jugendamt, keine Außentermine. Auch dass die Besuche der Kinder und Jugendlichen bei ihren Eltern und Freunden außerhalb des Kinderdorfs überwiegend wegfallen, ist für sie meistens kein Problem. Das Leben im Dorf gleicht eher einer Ferieninsel. Natürlich „beschulen“ wir die Kinder und Jugendlichen zu Hause, und mit einem differenzierten Freizeitprogramm geben wir ihnen Struktur. Dies übernehmen diejenigen Kolleg/-innen, bei denen gerade Kapazitäten frei werden, etwa aus den ambulanten Hilfen oder der Schulsozialarbeit. Der Fachdienst koordiniert die personellen Ressourcen und die Aktivitäten. Insgesamt fühlen sich die jungen Menschen aktuell aber viel weniger unter Druck als sonst.
Einigen Mitarbeiter/-innen ist die Arbeit im Kinderdorf auch in der aktuellen Situation sehr viel lieber als die Vorstellung, die Zeit mit ihren eigenen Kindern beengt im Home-Office verbringen zu müssen. Derzeit finden kaum interne Besprechungen oder kollegiale Beratungen statt. Einzelne Teams nutzen ihre Supervision weiter – mit Sicherheitsabstand in den jeweiligen Praxen außerhalb oder auch in unseren großen Besprechungsräumen. Wenn Meetings stattfinden, dann nur im kleinen Rahmen und in verkürzter Form. Das alles funktioniert nur, weil wir bisher keinen Corona-Fall haben und die einzelnen Häuser nicht isoliert betrachten, sondern das Dorf als Ganzes.
Ende der „Abschottung“ in Sicht
Dauerhaft lässt sich dieser Zustand natürlich nicht aufrechterhalten. Inhaltlich und pädagogisch wird es jetzt Zeit, die Kontakte zu den Herkunftsfamilien wieder zu intensivieren. Am übersichtlichsten wäre es, die Besuche erst einmal nur im Kinderdorf zuzulassen. Denn es ist keine gute Vorstellung, unsere Kinder und Jugendlichen mit öffentlichen Verkehrsmitteln quer durch Hamburg zu schicken. Allerdings ist es mittlerweile rechtlich so geregelt, dass die Kinder aus der öffentlichen Jugendhilfe auch in Corona-Zeiten ihre Eltern zu Hause besuchen dürfen.
Wir werden mit den Eltern vorher sprechen, ihnen ein Merkblatt aushändigen und sie natürlich bitten, vorsichtig zu sein – die Hygieneregeln werden sich bei den Besuchen aber nicht konsequent einhalten lassen. Es ist nicht realistisch, dass sich unsere Kinder und ihre Eltern nach all dieser Zeit nur mit einem Sicherheitsabstand begegnen. Das kann ich auch gut nachvollziehen: Bisher haben die allermeisten Kinder und Eltern die Situation sehr gut gemeistert. Sich dann aber wiedersehen und nicht in den Arm nehmen dürfen – das wird nicht funktionieren. Je kleiner die Kinder sind, desto weniger wird es gehen.
Auch in andere Bereiche muss langsam wieder Bewegung kommen. Manche Therapien müssen fortgesetzt werden, und auch ganz banale Dinge stehen an: Personalausweise verlängern, Bankkonten einrichten, neue Brillen besorgen, Bekleidung kaufen.
Herausforderung Schule: Öffnungen erfordern Doppeldienste
Durch die schrittweise Öffnung der Bildungsinstitutionen sehen wir neben der Infektionsgefahr vor allem eine logistische und inhaltliche Herausforderung auf die Teams zukommen: Manche unserer Kinder müssen morgens wieder in die Schule – aktuell nur die vierten und die Abschlussklassen. Öffentliche Verkehrsmittel sollen aber möglichst gemieden werden. Das bedeutet für die Kolleg/-innen, Fahrdienste zu übernehmen, während die anderen Kinder zu Hause bleiben. Wir brauchen also auch morgens schon eine doppelte Besetzung im Dienst. Zudem sollen die Kinder im Kinderdorf „Homeschooling“ machen. Dabei benötigen sie natürlich Begleitung. Außerdem sind dafür auch die entsprechenden Hardwarelösungen erforderlich, an denen wir mit Hochdruck arbeiten.
Szenarien für die Zeit der Lockerungen
Zur normalen Alltagsarbeit gehören dann auch wieder regelmäßige Teambesprechungen, Supervision und kollegiale Beratung. Aber wann haben die Teams dafür Zeit? Es sind immer Kinder zeitgleich im Haus und in der Schule. Zudem wird die Beschulung teilweise bald auf den ganzen Tag ausgedehnt, um sie zu entzerren. Dann haben wir dasselbe Problem auch am Nachmittag, inklusive der erforderlichen Fahrdienste. Hinzu kommen irgendwann wieder die Außentermine der Kinder mit Sportverein, Logopädie, Ergotherapie und so weiter.
Unsere Idee ist es bisher, „Partnerteams“ zu bilden – da, wo sich die jeweiligen Bedarfe ähneln und auf diese Weise sinnvoll auffangen lassen: Beispielsweise nimmt am Montag Team 1 die zu Hause betreuten Kinder von Haus 2 auf, sodass Haus 1 in dieser Zeit in Ruhe Teambesprechung machen kann. Am Dienstag läuft es dann umgekehrt. Aber das ist bisher nur die Theorie.
Vorbereitet auf den Quarantänefall?
Im Moment nähen einige unserer ehrenamtlichen Mitarbeiter/-innen in großem Umfang Schutzmasken. Die Kinder und Jugendlichen gewöhnen sich langsam daran, sie zu tragen und sich an die Abstandsregeln zu halten. Wie es dann genau laufen wird, wenn wir den ersten Corona-Fall bei uns im Kinderdorf haben, wird sich zeigen. Früher oder später wird auch bei uns jemand positiv auf das Coronavirus getestet werden. Ein Haus 14 Tage lang mit allen Kindern und Mitarbeiter/-innen unter Quarantäne zu stellen, bringt sicher eine ganz andere Dimension der Herausforderung mit sich. Die Quarantäneregelungen des Gesundheitsamts für einen solchen Fall sind ja sehr eindeutig!
Mai 2020
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