„Wir schauen über den Altersrand – gemeinsame Betreuung von Kindern und Alten“
Altersgemischt seit je her im SOS-Mütterzentrum Salzgitter – Mehrgenerationenhaus Entwicklungsgeschichte
1980er Gründung und Weiterentwicklung des 1. Mütterzentrums in Deutschland
Ein offener Treff für Mütter und Kinder aus der Nachbarschaft nach dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe. Mütter haben hier die Möglichkeit, Themen aus ihrem Familienalltag in einem öffentlichen Raum mit Gleichgesinnten zu besprechen. Angezogen davon kommen erste alte Menschen aus der Nachbarschaft hinzu. Es folgen 450 weitere Mütterzentren im In- und Ausland.
Von 1981-1983 wurde das Mütterzentrum ein Modellprojekt mit wissenschaftlicher Begleitung durch das Deutsche Jugendinstitut München. Im Auftrag der damaligen Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit Prof. Dr. Rita Süßmuth. Die erfolgreiche Arbeit führte 1984 zur Trägerschaft durch den SOS Kinderdorf Verein. Ab diesem Zeitpunkt gab es eine gesicherte Finanzierung und damit eine erste räumliche Erweiterung mit dem Umzug in die Erikastraße.
1990er: Konzeptionelle und räumliche Erweiterung
Das Herzstück des Mütterzentrum blieb das Offene Haus mit der Caféstube und seinen Gastgeberinnen. Das Angebot wurde um das Kinderhaus, die berufsbildenden Angebote und den Altenservice erweitert, die Betreuung von Jung und Alt wird zur festen Institution im Haus, immer mit offenen altersgemischten Angeboten. Gleichzeitig steigt die Nachfrage und es wird mehr Platz benötigt. Ursprünglich gegründet in einer alten Wäscherei in Salzgitter-Bad, bezog das SOS-Mütterzentrum Salzgitter im Jahr 1999 einen im Ort zentral gelegenen Neubau mit 2000qm. Dieser wurde eigens für die Arbeit und das Leben
2000er: Mehrgenerationenhäuser bundesweit
Hildegard Schooß entwickelt im Auftrag von Ministerin Dr. Ursula von der Leyen das Konzept der Mütterzentren zu einem Konzept der Mehrgenerationenhäuser. Die damalige Sozialministerin des Landes Niedersachsen sorgt auf politischer Ebene für eine bundesweite Verbreitung. Inzwischen gibt es 540 Mehrgenerationenhäuser in der Bundesrepublik.
2018: Eine Vision wird Realität – täglich, verbindlich, pädagogisch begleitete Betreuung für Jung und Alt
Das Modellprojekt „Wir schauen über den Altersrand – gemeinsame Betreuung von Kindern und Alten“, startete in neuen Räumen und stellte sich in einer Laufzeit von 3 Jahren die Aufgabe, ob es möglich ist Kinder und Alte gemeinsam zu betreuen.
2020: Veröffentlichung des Endberichts und des Werk-Buchs zum Modellprojekt Altersrand
Wir möchten unsere Erfahrungen auch mit anderen teilen und sie ermuntern, ebenfalls altersgemischte Betreuungsmö lichkeiten zu schaffen und den Ansatz „Alltag statt Event“ weiter zu entwickeln. Zwar mussten wir seit März 2020 den gemeinsamen Alltag von Jung und Alt aufgrund der Corona Pandemie einstellen, doch gerade das alltägliche ist es was bei den Menschen bleibt. So erinnerte sich ein alter Mann trotz seiner Demenzerkrankung daran: „Früher kamen immer die Kinder, ich habe dann immer mit dem einen Jungen Mensch ärgere dich nicht gespielt, das war immer sehr schön.“
Altersgemischt seit je her
Intergenerativität ist ein Grundpfeiler des SOS–Mütterzentrums, seit mehr als 40 Jahren bietet das Haus seine Angebote altersübergreifend an. Doch angesichts des demografischen Wandels und der immer weiter abnehmenden Kontaktgelegenheiten zwischen der jungen und der alten Generation im privaten wie öffentlichen Raum wird die Notwendigkeit abgesicherter und professionell begleiteter altersgemischter Begegnungsräume immer dringender. Vor diesem Hintergrund wurde das Modellprojekt „Wir schauen über den Altersrand – gemeinsame Betreuung von Kindern und Alten“ geboren. Mit einer Vorlaufzeit von einem halben Jahr startete das Modellprojekt am 01.01.2018 und endet am 31.12.2020. Im Modellprojekt Altersrand werden bis zu 25 Kinder und bis zu 12 alte Menschen im Rahmen einer Kindertagesstätte und einer Alten-Tagesbetreuung täglich gemeinsam betreut. Insgesamt gibt es 36 alte Menschen, wobei nicht alle jeden Tag kommen. Im Mütterzentrum wurden von Anfang an offene altersübergreifende Angebote gemacht, doch das Modellprojekt Altersrand ermöglicht mehr als das. Eine verbindliche Betreuung von Jung und Alt im Rahmen von SGB VIII und XI, bei der Aktivitäten durch ein buntes Team professionell entwickelt, erprobt und begleitet werden.
Das Prinzip Wahlfamilie
Die Strukturen des Modellprojektes Altersrand sowie des gesamten SOS-Mütterzentrum Salzgitter orientieren sich an denen einer Familie. Hier gibt es einen kulturellen Rahmen, innerhalb dessen sich alle frei entfalten können, bestehend aus einer Atmosphäre von Wertschätzung und Empathie. Jeder Mensch ist willkommen und kann sich nach eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen einbringen. Manche werden aktiv, andere beobachten gerne. Dabei ist eine neue Form gegenseitiger Aufmerksamkeit und Verantwortung füreinander über die Altersgrenzen hinaus entstanden, die wir Wahlfamilie nennen.
Offene Strukturen
Offene Strukturen heißt, spontan und bedürfnisgerecht Zeit miteinander verbringen zu können, aber auch geplante Aktivitäten im Tagesablauf zu etablieren und zu variieren. Die Betreuten erhalten dabei die Möglichkeit, alltäglich aktiv an Angeboten mit Gleichaltrigen oder altersgemischt teilzunehmen, sie haben aber auch die Möglichkeit sich zurückzuziehen. Dabei werden sie stets von pädagogisch Handelnden angeleitet, begleitet oder beaufsichtigt – je nach Bedarf.
Durchlässiges Raumkonzept
Die Räumlichkeiten sind entsprechend der offenen Strukturen – ohne Flure - miteinander verbunden, Türen sind schließbar, aber nicht verschlossen. Das fördert und erleichtert Begegnung, Kontakt ist schneller hergestellt, das Eis schneller gebrochen, Beziehungen leichter gepflegt. Insgesamt vier große Räume sowie eine Küche stehen den Mitarbeitenden, Kindern und alten Menschen für Aktivitäten zur Verfügung.
Altersgemischte Aktivitäten im Alltag
Täglich erhalten die Kinder wie die alten Menschen die Gelegenheit, bei geplanten oder spontanen altersgemischten Aktivitäten mitzumachen: Sich bewegen, Tanzen, Basteln, zusammen essen, zusammen Lachen und Streiten, sich mit dem Thema Wald beschäftigen oder gemeinsam überlegen, was die flotte Lotte wohl für ein Haushaltsgegenstand war. Wichtig ist, ob spontan oder geplant, in einen Austausch zu kommen. Ein buntes Team aus u.a. Erzieherinnen, Alltagsbegleiterinnen, Altenpflegerinnen und Sozialassistentinnen sowie einer Köchin planen und begleiten die altersgemischten Aktivitäten.
Ziel - Kinder und alte Menschen Lernen voneinander, miteinander und übereinander
Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung bleiben Gelegenheiten voneinander, miteinander oder übereinander zu lernen oft aus. Im Modellprojekt Altersrand erhalten die alten Menschen Gelegenheiten, aus der durch Isolation und Einsamkeit erlernten Hilflosigkeit auszubrechen. Im sicheren Rahmen der Betreuung können sie wieder Selbstwirksamkeit erfahren, wenn sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen an die Kleinen weitergeben. Außerdem bleiben sie durch die Welt der Kinder in Kontakt mit der modernen Gesellschaft. Die Kinder haben die Möglichkeit, das Alter(n) als normalen Bestandteil des Lebens kennenzulernen und einen positiven Begriff vom Alter zu entwickeln. Sie lernen eine höhere Aufmerksamkeit und Verantwortung gegenüber eingeschränkten Menschen und profitieren vom Lebenswissen der Alten. Familien wissen ihre Angehörigen in einem diversen, anregenden und familienähnlichen Ort, der einen Bildungs- und Betreuungsauftrag erfüllt.
Ausblick
Diese Form der Betreuung ist darauf ausgerichtet, beide Generationen in einem gemeinsamen Alltag zu verbinden. Im Gegensatz zu Konzepten wie „Kindergarten besucht Altenheim“ ist „Alltag statt Event“ hier das Motto. Wichtig dabei ist es, Neugier und Nähe zuzulassen, Beziehungen zu ermöglichen sowie Ängsten und Einsamkeit entgegen zu wirken - als eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Bedarf an zuverlässigen Austauschmöglichkeiten zwischen der jungen und der alten Generation. So wie andere pädagogische Betreuungseinrichtungen ihr Konzept auf Wald-, Kunst- oder Bewegungspädagogik auslegen, zielt das Konzept des Modellprojekts Altersrand darauf, die Beziehung und den Austausch der Generationen zu stärken, eine positive Besetzung des Alter(n)sbildes herbeizuführen und das Verantwortungsgefühl im Sinne einer inklusiven Gesellschaft zu stärken. Daraus ergab sich auch die Idee einer intergenerativen Profilierung von KiTa und Alten -Tagespflege. Im Unterschied zu traditionellen Betreuungsformen wird den Betreuten ein Alltag mit diversem Umfeld geboten, in welchem sie lernen, ihre Bedürfnisse auszudrücken und gleichzeitig mit denen der anderen verantwortungsvoll umzugehen. Wir möchten diese Form der Betreuung gern weiterentwickeln und auch andere Einrichtungen dazu ermutigen, ihr Profil dahingehend zu schärfen, alle Menschen mit Betreuungsbedarf ohne zielgruppenorientiertes Handeln in den Blick zu nehmen und Wahlfamilien mit allen Altersstufen zu ermöglichen.
In Frühjahr 2021 werden verschiedene Filme, der Ergebnisbericht und das Werk-Buch zum Modellprojekt
Altersrand auf der Homepage des SOS-Mütterzentrum Salzgitter – Mehrgenerationenhaus zur Verfügung gestellt. Der Ergebnisbericht fasst die wichtigsten Ergebnisse des Modellprojekts Altersrand übersichtlich zusammen. Auf das Werk-Buch sind wir ganz besonders stolz. Es ist ein Lehrbuch, in dem wir Tipps‚ aus der Praxis für die Praxis zusammengefasst, das derzeitige Feld der altersgemischten Betreuung mit seinen Entwicklungsbedarfen beschrieben und eine Fortbildung für Mitarbeitende mit fünf Modulen und zahlreichen Methoden konzipiert haben, die darauf abzielt, ein intergeneratives Berufsverständnis zu entwickeln.