Das SOS-Mütterzentrum Salzgitter hilft mit dem durch den Europäischen Sozialfonds geförderten Projekt „Digital care“ arbeitssuchenden Frauen mit Kindern, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Sie haben teils keine Ausbildung oder seit Jahrzehnten nicht mehr gearbeitet.
Endlich ins Berufsleben einsteigen: Fachanleiterin Susanne Gatzki (Bild: rechts) führt Bianca in die Grundlagen der Küchenarbeit ein. Die 42-Jährige ist seit über 20 Jahren Hausfrau und Mutter. Das soll sich nun bald ändern.
© SOS-Kinderdorf e.V. / Frank May
Der Teig zieht sich in die Länge und flutscht schließlich von der Schöpfkelle ins Einweckglas. Bianca muss aufpassen, dass nichts danebengeht, denn das wäre eine klebrige Angelegenheit. „Brot im Glas“ steht heute auf dem Programm der Lehrküche im SOS-Mütterzentrum. „Unser Vollkornbrot passt zu unserem aktuellen Thema ‚gesunde Ernährung‘“, erklärt Susanne Gatzki. Die gelernte Köchin ist die Fachanleiterin von Bianca. Zwei Vormittage pro Woche führt sie Bianca in die wichtigsten Grundlagen der Küchenarbeit ein. Die Stunden in der Lehrküche zählen zu Biancas Praxisteil, den das Projekt „Digital Care“ beinhaltet. Über das Projekt möchte Bianca den Einstieg ins Berufsleben finden.
„Die meisten Frauen sind hochmotiviert, es in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen.“ (Maria Larbi, Leiterin von „Digital Care“)
Seit über zwei Jahrzehnten lebt die 42-Jährige als Hausfrau. Sie hat als Jugendliche eine Hauswirtschaftsschule besucht und kurzzeitig als Pflegehilfe in der Altenpflege gearbeitet. Doch dann wurde sie zum ersten Mal schwanger – an ihrem 19. Geburtstag. Insgesamt hat die Alleinerziehende fünf Kinder und ist mittlerweile zweifache Großmutter. Zwei ihrer Söhne leben mit ihr zusammen, der Jüngste, sieben Jahre alt, wohnt beim Vater. „Ich war so lange mit Haushalt und Kindern beschäftigt, jetzt muss ich dringend rauskommen und was anderes machen.“ Am Anfang waren da eine Hemmschwelle und die Sorge, ohne abgeschlossene Ausbildung den Anforderungen „da draußen“ nicht zu genügen. Schließlich hatte sich die Arbeitswelt permanent ohne sie weitergedreht.
Übung macht den Meister: Wer so lange wie Hausfrau Bianca (Bild: links) nicht berufstätig war, braucht Zeit, um Vertrauen in seine Fähigkeiten aufzubauen. Köchin Susanne Gatzki (Bild: rechts) ist eine geduldige Lehrmeisterin.
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Nun also steht sie in der SOS-Lehrküche und backt. Damit sind erste wichtige Schritte geschafft: Bianca muss pünktlich zur Arbeit erscheinen, das Leben mit Kindern um feste berufliche Verpflichtungen herum organisieren, eine neue Struktur schaffen. Und mehr noch: Drei Tage Digital-Unterricht, zwei Tage analoge Tätigkeit im Mütterzentrum – so sieht es das Projekt vor, das im Oktober 2021 gestartet ist. Die Kooperation zwischen der SOS-Einrichtung, dem lokalen Jobcenter und der Stadt Salzgitter wird gefördert durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) nach der FIFA-Richtlinie (Förderung und Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt). „Digital Care“ richtet sich an Mütter zwischen 21 und 47 Jahren, die Arbeitslosengeld beziehen, alleinerziehend oder in Partnerschaft leben, mit und ohne Flucht- bzw. Migrationshintergrund. Das Mütterzentrum bietet bis zu 16 Frauen
einen Platz und hilft ihnen 12 Monate lang, 20 Stunden pro Woche, sich auf den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt vorzubereiten.
Wenn Arbeitswunsch und Wirklichkeit nicht zusammenpassen
Beruf und Kinder zu vereinbaren, ist heute nach wie vor kein leichtes Unterfangen. Begrenzte Betreuungsplätze vor allem in Randzeiten und wenig flexible Teilzeitmöglichkeiten erschweren das reibungslose Nebeneinander. Laut Arbeitsagentur stehen dabei Frauen erheblich häufiger als Männer vor der Herausforderung, neben der Arbeitssuche allein für die Erziehung von Kindern verantwortlich zu sein.
„Wir haben es nicht nur mit einem Gender Pay Gap zu tun, sondern auch mit einem Digital Gap. “ (Maria Larbi, Sozialpädagogin und Leiterin von Digitial Care)
Wenn sie arbeiten, dann überdurchschnittlich oft im Niedriglohnsektor: 2020 waren 61 Prozent der Geringverdienenden Frauen. Zwei Drittel der Minijobber sind weiblich, insgesamt 2,6 Millionen Deutsche. Doch oft ist aufgrund der Sorgearbeit kaum mehr als eine Teilzeitbeschäftigung möglich. Ein Fünftel der Mütter hierzulande ist weniger als 20 Stunden pro Woche in ihrem Beruf beschäftigt, obwohl sich nur 12 Prozent solch ein kleines Stundenpensum wünschen.
Zu Beginn des Projekts können die „Digital Care“-Teilnehmerinnen Wünsche äußern: Wo möchten sie den Praxisteil absolvieren – in der Hauswirtschaft, im sogenannten Alten-Service, in der Kinderbetreuung oder Gastronomie des Mütterzentrums? Dass Bianca die Lehrküche von Susanne Gatzki wählen würde, war sofort klar für sie, denn hier erkennt sie ihre Stärken. „Kochen und Backen haben mir meine Uroma und Oma beigebracht. Trotzdem lerne ich hier viel dazu, Susanne ist schließlich ein Profi“, sagt sie, während sie die Brote in den Ofen schiebt. Wie man profimäßig Obst und Gemüse schnippelt, lernen die Frauen hier ebenso wie Rezeptgrößen und Maßeinheiten umzurechnen, Nährwerte von Mahlzeiten zu ermitteln und aus Vorräten vollwertige Gerichte zuzubereiten. Einen geschützten Raum bieten, um sich an wachsende Anforderungen zu gewöhnen – so ist die „Digital Care“-Maßnahme konzipiert. Denn wer so lange wie Bianca nicht fest gearbeitet hat, braucht Zeit, um Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten aufzubauen. Routinen müssen entwickelt und die Alltagsorganisation zwischen Beruf und Familie neu erlernt werden.
Digitaler Nachholbedarf: Gemeinsam den Computer starten
Digitaler Nachholbedarf: „Nur wenige der Teilnehmerinnen besitzen einen Computer oder eine Mailadresse“, sagt Maria Larbi, Leiterin von Digital Care (Bild: Mitte). Deshalb wurde jeder von ihnen zu Beginn des Projektes ein Laptop zur Verfügung gestellt (links im Bild: Teilnehmerin Inga; rechts im Bild: Teilnehmerin Bianca)
© SOS-Kinderdorf e.V. / Frank May
Auch im zweiten, namensgebenden Part des Projekts geht es um ein neues Selbstverständnis der Frauen – im Umgang mit digitalen Medien. Ein Smartphone hat zwar so gut wie jede der Teilnehmerinnen, aber nur wenige besitzen einen Computer oder eine Mailadresse. Zu Beginn des Projekts wurde deshalb jeder von ihnen ein Laptop zur Verfügung gestellt. „Für viele war es ein Initialerlebnis, sie haben zum ersten Mal einen Computer hochgefahren“, erzählt Maria Larbi, die Leiterin von „Digital Care“. „In unserer Gesellschaft haben wir es nicht nur mit einem Gender Pay Gap zu tun, sondern müssen uns auch mit einem Digital Gap auseinandersetzen. Die Arbeitswelt hat sich rasant weiterentwickelt und die Frauen haben digitalen Nachholbedarf.“ Gemeinsam wurde jeder Teilnehmerin eine Mail-adresse eingerichtet – denn Mailen ist während des einjährigen Programms das wichtigste Kommunikationsmittel für die Frauen. Gemeinsam mit einer Kollegin unterrichtet Frau Larbi die Gruppe drei Mal pro Woche. Abwechselnd im Fernunterricht – digital über Chat, Mail und Videocall – und im Präsenzunterricht. Auf dem Lehrplan stehen der Umgang mit den gängigen Programmen wie Word, Excel und Powerpoint ebenso wie Bewerbungstrainings und schließlich die Suche nach einem zweimonatigen Praktikumsplatz.
Ein strammes Programm für die Frauen, doch auch die Sozialpädagogin selbst steht vor vielfältigen Herausforderungen. „Wir sind eine bunte Truppe, jede Frau bringt ihre eigene Geschichte, Stärken und Schwächen mit. Ich habe alle Hände voll damit zu tun, die unterschiedlichen Bedürfnisse zu erkennen – sowohl fachlich als auch menschlich.“ Auch Bianca gibt zu, einige schlaflose Nächte vor Kursbeginn gehabt zu haben. „Als wir die ersten Hausaufgaben per Mail nach Hause geschickt bekommen haben, dachte ich, das schaffe ich nie!“, gesteht sie. „Wir sollten eine Excel-Tabelle erstellen. Meine Jungs waren in der Schule und konnten mir nicht helfen. Ich habe tief durchgeatmet, mir einen Kaffee und Schokolade geholt und mich drangesetzt. Und am Ende stand die Tabelle tatsächlich.“
Alles unter einem Dach – das Modell „Mehrgenerationenhaus“
Maria Larbi weiß, dass sie neben technischem Know-how auch psychologische Unterstützung bieten muss, um den Frauen das nötige Selbstbewusstsein mit auf den Weg zu geben. Auch wenn es für die Sozialpädagogin viel Arbeit bedeutet – die Vielfalt in den Kursen ist gewollt. „Unsere Erfahrung zeigt, je unterschiedlicher die Herkunft und Geschichte der Frauen, die hier zusammenfinden, umso besser“, erklärt Nicole Scheid. Seit 2009 leitet sie den Bereich für Berufsorientierte Angebote im Mehrgenerationenhaus Salzgitter.
„Wenn Christinnen auf Musliminnen treffen, Einheimische auf Geflüchtete, ist das besser als jeder Kurs in Integration und Toleranz.“ (Nicole Scheid, Bereichsleiterin und Diplom-Pädagogin)
Die Frauen beginnen, die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe zu verstehen und sich gegenseitig zu helfen. Und sie merken, dass sie im selben Boot sitzen. „Der Lerneffekt geht über das Erlernen von Computerprogrammen weit hinaus!“, so Scheid. In diesem Sinne entspricht der Kurs auch dem Motto des Mehrgenerationenhauses: „Alles unter einem Dach“. Seit 1980 ist das Zentrum Anlaufstelle für Mütter und seitdem stetig gewachsen. Im Jahr 2000 eröffnete der Neubau, der als Modellstandort für das Bundes-Aktionsprogramm „Mehrgenerationenhaus“ dient. „Wer unser Haus betritt, stellt schnell fest: Es gibt viel Licht dank vieler Fenster und es gibt viele Türen und Wege, um von einem Raum zum nächsten zu gelangen. Das spiegelt unsere Idee wider, dass Wege Begegnungen schaffen“, erläutert Scheid. Und tatsächlich sitzen zur Mittagszeit in der Caféstube, die durch mehrere Glastüren zugänglich ist, Jung und Alt zusammen. Die Senior*innen aus dem Stadtteil neben ukrainischen Geflüchteten, die gerade einen Deutschkurs besucht haben. Frauen, die zur Beratung hierherkommen oder im MüZe-Basar nach günstigen Kindersachen suchen.
Kraft schöpfen und neue Perspektiven entwickeln
Freude an der Arbeit: Gerade für psychisch belastete Teilnehmerinnen wie Inga, die jahrelang an Depressionen litt, ist das Projekt eine Chance, ohne Druck den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu finden.
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Neben Bianca auf der „Schulbank“ sitzt immer montags und mittwochs: Inga. Die schlanke Frau mit ernstem Gesicht wirkt auf den ersten Blick verschlossen. Doch sie beginnt, ohne Umschweife, von ihrem Leben zu erzählen. 1990 kam sie als 18-Jährige von Litauen nach Deutschland. Allein, ohne ihre Eltern. Zuerst besuchte sie Bekannte ihrer Eltern im Westen, über sie lernte sie ihren Mann kennen – und blieb. „Ich bin einen steinigen Weg gegangen, ich habe alles erlebt“, erzählt sie. Sie brachte sechs Kinder zur Welt, mit Ende 40 hat Inga bereits elf Enkelkinder. Die Ehe war zwar kinderreich, aber alles andere als glücklich. „Ich habe jahrelang durchgehalten, weil ich warten wollte, bis alle Kinder volljährig sind.“ Doch am Ende kam es so weit, dass sie mit ihren beiden Jüngsten ins Frauenhaus flüchten musste. Hinzu kommt: „Mein jüngster Sohn ist geistig behindert und braucht viel Pflege.
Freude am Helfen: Auch wenn Teilnehmerin Inga ihren gelernten Beruf als Altenpflegerin aufgrund der psychischen und körperlichen Belastung nicht mehr ausüben kann, ist es ihr immer noch ein Bedürfnis, anderen Menschen zu helfen. Im Kinderzimmer bringt sie Flüchtlingskinder auf andere Gedanken.
© SOS-Kinderdorf e.V. / Frank May
Er ist 17, hat aber den Verstand eines Achtjährigen“, schildert Inga. „Ich war schließlich ein Jahr krankgeschrieben, so erschöpft war ich.“ Noch heute leide sie unter Depressionen.
Eine Rückkehr in ihren erlernten Traumberuf gäbe es für sie nicht. „Ich bin gelernte Altenpflegerin und habe sechs Jahre sehr gerne in dem Beruf gearbeitet. Aber heute ist mein Rücken kaputt und meine Nerven sind dem Stress nicht mehr gewachsen.“ Doch sie möchte sich nicht unterkriegen lassen. „Ich will anderen Menschen helfen“, sagt sie und ihre ernsten Augen blitzen auf. Im Rahmen des Projektes hilft sie im ‚Kinderzimmer‘ mit. Die Arbeit mit den Kindern macht ihr Spaß und bringt sie auf andere Gedanken. Und ihr Bedürfnis, anderen Menschen zu helfen, kann sie hier direkt umsetzen: Heute kümmert sie sich um eine Gruppe ukrainischer Flüchtlingskinder. Mit der kleinen Valentina und Emma bastelt sie Blumen und zeigt ihnen, wie man mit der Schere das bunte Tonpapier schneidet. Anschließend gibt sie den Mädchen draußen im Garten auf der Nestschaukel Anschwung.
Was genau ihre Zukunft bringt, weiß sie noch nicht. „Jetzt werde ich mir erst mal einen Praktikumsplatz suchen. Und dann sehe ich weiter.“ Vor allem für psychisch belastete Frauen wie Inga ist das Projekt eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen, am Leben teilzuhaben und ohne Druck neue Perspektiven zu entwickeln.
Bianca hat bereits einen Platz gefunden – im Einzelhandel. „Ich möchte das Praktikum nutzen, um einen neuen Bereich kennenzulernen. Denn kochen und backen kann ich ja mittlerweile schon gut.“ Manchmal ist das Leben zäh wie roher Vollkornbrotteig. Doch im Mütterzentrum Salzgitter tun Maria Larbi und ihre Kolleginnen alles dafür, dass Frauen wie Bianca und Inga vieles leichter von der Hand geht – auch die Teilhabe an der Arbeitswelt. Aus Biancas Teig ist inzwischen knuspriges Brot geworden.