Da kommen ganz viele Gefühle hoch!

27. November 2017

Nino Bautz kam mit fünf Jahren ins SOS-Kinderdorf Worpswede. Doch die Frage nach seiner Herkunft lässt ihn nicht los. Mit Mitte 20 fasst er einen Plan. Er will die Familie seines verstorbenen Vaters finden.

Eine Wespe und ein frisch gewachster Parkettboden, das ist seine früheste Erinnerung an Worpswede. Auf der Flucht vor dem Insekt ist er als Kind ausgerutscht, das hat er sich gemerkt. Fünf Jahre alt ist Bautz, als er 1989 mit seinen Geschwistern sein neues Zuhause im SOS-Kinderdorf betritt. Vor allem seine Kinderdorfmutter Ilse, eine ehemalige Zahnarzthelferin, hat ihn geprägt. "Sie hat ganz viel Emotionen und Liebe mitgebracht“, sagt der heute 32-Jährige. "Und viel Wert auf Regeln gelegt. Um drei nach 20 Uhr zuhause sein, wenn 20 Uhr ausgemacht war – das war schon zu spät. Es mag kleinkariert klingen, aber mir hat das immer Sicherheit gegeben.“
Förderung und Wohlergehen in der SOS-Kinderdorffamilie
Das SOS-Kinderdorf habe viel für die Förderung und das Wohlergehen der Kinder getan, sagt Bautz. Er erzählt vom Musizieren mit seinen Geschwistern, seinen Theaterauftritten, den Osterferien an der Ostsee mit der Mutter oder später dem Urlaub in Caldonazzo, dem internationalen Feriencamp von SOS. Einmal kommt er mit einem Koffer voller versteinerter Schnecken zurück, die er in einer alten Bunkeranlage aus dem 1. Weltkrieg aus dem Fels gehauen hatte. "Bis in die frühe Jugend träumte ich davon, Archäologe zu werden“, sagt Bautz. Sogar eine kleine Bibliothek mit Büchern über Ägypten und Ausgrabungen hatte er in seinem Zimmer. An seinem 16. Geburtstag reist seine Mutter mit ihm nach Ägypten: "Die Pyramiden, Assuan, das Tal der Könige – ich konnte alle Orte ablaufen, die ich als Kind schon kannte, aber nie besucht hatte.“
Die Schattenseiten der Kindheit
Bei allen positiven Erinnerungen war das Leben als SOS-Kind auch nicht immer leicht. „Vor allem in der Schule ist mir aufgefallen, dass meine Sozialisation anders war als die meiner Mitschüler. Ich hatte eben nicht Mama und Papa. Was mir wohl am meisten gefehlt hat, ist eine männliche Bezugsperson. Heute hat sich viel geändert. SOS versucht ganz aktiv, auch Männer für erzieherische Berufe zu begeistern.“ Mit 20 zieht Bautz nach Berlin, beginnt ein Jurastudium, später nach Erfurt, um dort erst Staatswissenschaften, später Nahostwissenschaften auf Master zu studieren. Seine SOS-Familie besucht er oft, das Kinderdorf und seine SOS-Mutter, die mittlerweile pensioniert ist und im Nachbarort Lilienthal wohnt. Doch die Frage nach seiner Herkunft lässt ihn nicht los. Sie gibt viele Rätsel auf. Bautz hat zwar Kontakt zur Familie seiner leiblichen Mutter, doch die Familie seines Vaters kennt er nicht. Als er sich mit Ende 20 auf die Suche nach seiner Verwandtschaft im Libanon macht, hat er nur zwei Anhaltspunkte. Den Nachnamen seines Vaters und eine hastig geschriebene handschriftliche, arabische Notiz auf der Heiratsurkunde seiner Eltern. Doch alle anderen wesentlichen Informationen fehlen.
Auf Spurensuche im Libanon
Eine Bekannte bei der UN bringt ihn auf die richtige Spur: „Ich bin immer davon ausgegangen, dass mein Vater Libanese war“, sagt der heute 32-Jährige. „Das war falsch. Wenn man im Libanon einen Libanesen sucht, aber eigentlich einen Palästinenser finden will, kann das nicht funktionieren. Palästinensische Flüchtlinge sind in der Regel im Libanon staatenlos und nur bei der UN gemeldet.“ Die Spur führt Bautz in das größte palästinensische Flüchtlingslager bei Sidon im Südlibanon. Doch ohne Passagierschein vom Militär führt kein Weg in das Lager. Nino Bautz bittet seine Bekannte von der UN, dort Fotos von seinem Vater zu verteilen. „Irgendwann kam ein Anruf aus Beirut, dass sich jemand gemeldet hat – es war meine Tante.“
Nur das Foto eines Babys in den Armen seiner Mutter
Einen falschen Vornamen und ein Foto eines Babys in den Armen seiner Mutter. Das ist alles, was die Frau, die Anfang 2013 weinend in der UN-Botschaft in Beirut steht, über ihren Neffen weiß, der ihr jetzt plötzlich gegenübersteht. Ihr Bruder, Ninos Vater, war während des Libanesischen Bürgerkriegs nach Deutschland geflüchtet und musste seine Familie im Libanon zurücklassen. 1985, ein Jahr nach der Aufnahme des Fotos, ist er in Bremen gestorben. "Meine liebe Schwester“, steht auf der Rückseite des Bilds, „ich sende dir ein Foto meiner Familie, meine Frau Cornelia, und meine Kinder Mohammed, Fatma und Ibrahim.“ Was die Familie im Libanon nicht weiß: Die Namen der Kinder sind falsch. Ibrahim heißt in Deutschland Nino Bautz. Nach dem Tod seiner Eltern aufgewachsen im SOS-Kinderdorf Worpswede. „Mein Vater hat sich wohl nicht getraut zu sagen, dass wir keine arabischen Vornamen tragen. Zudem hat er den Nachnamen meiner Mutter aus Bremen bei seiner Heirat angenommen.“ Alle Versuche der Geschwister im Libanon, die Kinder ihres Bruders nach seinem Tod in Deutschland ausfindig zu machen, scheitern.
Bautz bekommt die Genehmigung, seine Familie im Flüchtlingslager zu besuchen, mittlerweile keine Zeltstadt mehr, sondern ein gewachsener Ort.
Fünf Tanten, ein Onkel, 26 Cousins und Cousinen warten dort auf ihn
Als Sozialwissenschaftler bereitet sich Bautz ganz rational auf das Treffen vor, doch es kommt anders als gedacht. "Meine Reaktion hat mich überrascht: Da war sofort ein ganz tiefes Gefühl von Verbundenheit. Meine Tanten haben alle angefangen zu weinen. Ich habe sie an ihren Bruder erinnert. Durch die Spiegelung meiner Verwandten habe ich auch den Vater kennengelernt, den ich nie hatte.“ Nach seinem Studienabschluss geht Bautz noch einmal für ein Jahr nach Beirut, arbeitet in einer internationalen Schule und besucht an den Wochenenden seine Familie. Doch es zieht ihn nach Deutschland zurück. „Die politische Lage dort ist anstrengend. Ich habe mich häufig gefragt, warum ich mir das antue. Der Bürgerkrieg in Syrien schwappt immer mehr in den Libanon über, das gleicht mittlerweile einer Inselsituation, die Grenzen* zu Israel und Syrien sind alle dicht“, sagt Bautz. „Ich fühle mich schon wohl in einem Land wie Deutschland, in dem ich alle Freiheiten habe und in dem Frieden herrscht. Zudem bin ich auch ein Fischkopf aus dem Norden!“
Mittler zwischen Orient und Okzident
Heute arbeitet Bautz in Leipzig als Koordinator für das Modellprojekt "Vaterzeit im Ramadan“ und entwickelt Weiterbildungen im Bereich interkulturelle Kommunikation. Das Ziel: die Sensibilisierung der Öffentlichkeit gegenüber muslimischen Männern, vor allem Vätern. „Ich fühle mich da pudelwohl, die Aufgabe ist spannend.“ Das glaubt man ihm, Bautz hat die Gabe, Menschen mit seiner eigenen Begeisterung mitzureißen. Schon als Jugendlicher hat er Sommercamps organisiert. Immer, wenn eine öffentliche Veranstaltung bei SOS ansteht klingelt das Telefon bei Bautz. 2015 hat er zum 60-jährigen Jubiläum von SOS-Kinderdorf den Niedersächsischen Ministerpräsidenten Stefan Weil durch das Kinderdorf Worpswede geführt. "Öffentlichkeitsarbeit liegt mir, besonders, wenn ich von einer Idee wirklich überzeugt und mit dem Herzen dabei bin. Ich könnte mir darum auch vorstellen, irgendwann für SOS zu arbeiten!“

* Anm. d. Redaktion: Die Grenze zu Israel ist seit knapp 70 Jahren geschlossen.


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