Am 24. Februar 2022 zeigten die Nachrichtensender zum ersten Mal verstörende und beängstigende Bilder über den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine. Spätestens mit Beginn der Flüchtlingswelle und der Ankunft von Frauen und Kindern in Polen und Deutschland Anfang März bestand im SOS Kinderdorf Sauerland eine enorm große Bereitschaft, Unterstützung und Wohnraum für die geflüchteten Menschen anzubieten.
Tatkräftig und mit viel Herzblut engagierten sich viele Mitarbeitende aus dem Kinderdorf, um den Menschen aus der Ukraine eine sichere Unterkunft auf Zeit zur Verfügung zu stellen. Wir richteten drei Häuser wohnlich ein und statteten sie mit dem notwendigen Inventar aus. Mitte März zogen die ersten 15 Frauen und Kinder ein. Sie wurden von einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin betreut, die in allen Fragen und Anliegen nach der Ankunft in Deutschland eine beständige Ansprechpartnerin für die Frauen war.
© SOS-Kinderdorf e.V. / Tanja Ebernickel
Die Bereitschaft der Mitarbeitenden aus dem Dorf, die ukrainischen Familien zu unterstützen, zeigte sich auch durch privates Engagement. Im eigenem Umfeld wurde Geld gespendet, welches in Form von verschiedenen Gutscheinen an die Frauen weitergegeben wurde. Die Spendenbereitschaft war insgesamt sehr groß und wir erhielten eine Geldspende von den Soroptimisten, zahlreiche Sach- und Kleiderspenden sowie viele schöne Spielzeuge für die kleineren Kinder.
Die Verständigung per Übersetzungs-Apps war die Basis für die gesamte Kommunikation und gelang recht gut. Das Handy wurde zu einem unerlässlichen Arbeitsmedium. Bei komplexeren Themen oder Anliegen zum Aufenthaltsstatus, zur Schulpflicht, zu Corona, U-Untersuchungen der Kinder und vielem mehr konnten wir im Kinderdorf auf eine Mitarbeiterin mit russischen Sprachkenntnissen zählen. Ihr Engagement bedeutete eine wesentliche und enorm wertvolle Unterstützung bei der Verständigung und Arbeit mit den ukrainischen Familien.
Mit dem Einzug der ukrainischen Frauen und Kinder stellten wir die erste Versorgung mit Nahrungsmitteln und Hygieneartikeln sicher. Aus unserem Spendenlager konnten wir die Menschen zusätzlich mit Schuhen, Kleidung und Spielzeug versorgen.
Die Frauen und Kinder erhielten Orientierung und Sicherheit für ihren neuen Alltag. Wir begleiteten sie bei den ersten behördlichen Terminen, wie z.B. zur Anmeldung und Registrierung oder um ihre finanzielle Unterstützung sicherzustellen. Ebenso wurde ein sofortiger und gesicherter Zugang zu Gesundheitsleistungen und Medikamente organisiert. Eine Krebspatientin benötigte dringend Unterstützung und unseren Beistand, um ihre lebensnotwendige medizinische Versorgung schnellst möglich sicherzustellen und fortzusetzen. Die Anschaffung einer medizinischen Perücke konnten wir zu einem späteren Zeitpunkt durch Spendengelder finanziell unterstützen.
Eine andere Frau benötigte dringend eine zahnmedizinische Weiterbehandlung. Unsere kleinste ukrainische Bewohnerin war gerade erst sieben Monate alt. Um ihren allgemeinen Gesundheitszustand und die altersgemäße Entwicklung gut im Blick zu behalten wurde für sie schnell ein Kinderarzt gesucht. Die ersten Arztbesuche, gemeinsam mit ihrer Mama, begleitete unsere russisch sprechenden Mitarbeiterin.
Es war uns wichtig, die Frauen in allen Bereichen aktiv und solidarisch zu unterstützen. Ihr Hilfebedarf erwies sich nach wenigen Wochen als so weitreichend und wichtig, dass sich aus dem anfänglichem Ehrenamt eine 30- Stunden Stelle für eine Integrationslotsin entwickelte.
Nach wenigen Wochen folgten fünf weitere Einzüge von Familienangehörigen, sodass wir nunmehr 20 ukrainische Personen in unserem Kinderdorf betreuen.
Nach der primären Unterstützung waren die Anmeldungen zu Integrations- und Sprachkursen wichtig. Den Kindern konnten wir einen frühen Zugang zu Bildung ermöglichen und wir halfen den Frauen bei allen Formalitäten für die Schulanmeldung und bei der Integration an ortsansässigen Grund- und Gesamtschule oder Berufskollegs. Den Kindern konnten wir Tabletts zur Verfügung stellen, damit sie noch vor Schulbeginn Zugriff auf die Lernportale ihrer Schulen hatten.
Es folgte die Registrierungen bei der Ausländerbehörde für notwendige Aufenthaltstitel oder einer Arbeitserlaubnis. Ab dem 1. Juni waren plötzlich nicht mehr die Sozialämter für die Geflüchteten zuständig, sondern die Jobcenter. Wir haben unsere ukrainischen Familien intensiv auf den Wechsel vorbereitet und sie bei der Umstellung und der Flut von Anträgen und Formularen unterstützt und begleitet.
Fast alle Frauen haben einen Hochschulabschluss, es sind vor allem Ingenieurinnen, Bürofachkräfte und Bankangestellte. Einigen Frauen war es wichtig, eine Aufgabe oder eine Beschäftigung zu finden, auch jenseits ihrer Qualifikation. Zwei Frauen konnten wir bis zum Jahresende eine erste befristete Beschäftigung in unserem Kinderdorf ermöglichen.
Ein Großteil unserer Ukrainer*innen sind aus der Stadt Charkiw geflohen. Sie haben alles zurückgelassen, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Da sich die kriegerischen Angriffe weiterhin verstärkt in der Ost- und Südukraine konzentrieren, haben die ersten Frauen und Familien entschieden, sich im Raum Lüdenscheid eine neue und sichere Existenz aufzubauen. Wir haben die Frauen und die Familien bei der Wohnungssuche und bei ihren Umzügen in eine eigene Wohnungen in allen Belangen unterstützt.
Neben diesen Dingen war auch das gegenseitige Kennen- und Verstehen lernen ein wesentlicher Schlüssel für die Integration. Wir haben die ukrainischen Familien aktiv in unser Dorfleben mit einbezogen und sie an Aktionen und Festen teilhaben lassen. Ob Sommerfest oder Eisdiele, Wasserschlacht auf dem Dorfplatz oder verschiedene Ferienfreizeit-Angebote und Aktivitäten. Eine Kanu Tour auf der Lister Talsperre, mit 3 Kindern und 2 Mitarbeitenden aus dem Kinderdorf und 4 ukrainischen Frauen, war ein schönes Beispiel für gelebte Integration und Zusammengehörigkeit. Eine sehr gelungene Aktion, die besonders den ukrainischen Frauen eine Abwechslung und eine Auszeit aus ihrem Alltag ermöglichte. Sie konnten für einen Tag ihre Sorgen und Ängste vergessen und gemeinsam mit den anderen ein beglückendes Gemeinschaftsgefühl erleben.
Unsere ukrainischen Frauen und ihre Familien waren überwältigt von der Hilfsbereitschaft und der Unterstützung und sehr dankbar für den Schutz und unsere Anteilnahme.
Mit unserer Haltung, Motivation und Offenheit stehen wir auch zukünftig entschlossen dafür ein, dass Leben und die Integration von Menschen, die Leid erfahren oder in Not geraten sind, zu verbessern.
Silvia Ludwig
Integrationslotsin KD-Sauerland