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Aktuelles

Schutz steht an erster Stelle: Ein Zuhause für „belastete“ Kinder

15. März 2021

Von Dirk Weber, Rheinische Post vom 15. März

Kreis Kleve. Das SOS-Kinderdorf sucht Erziehungsstellen, die sich um Kinder kümmern, die nicht in einer normalen Pflegefamilie unterkommen können. Interessenten müssen pädagogisch-medizinisch ausgebildet sein.

Das SOS-Kinderdorf Niederrhein bietet belasteten Kindern ein Zuhause

Um im Job erfolgreich zu sein, braucht es Qualifikationen, Fort- und Weiterbildungen. Im Privaten sieht das anders aus. Eltern zum Beispiel brauchen das alles nicht. Für sie gibt es keine Tauglichkeitsprüfung, keinen Führerschein, keine Erziehungsnachweise. Es genügt, ein Kind in die Welt zu setzen. Ob sie nun gute oder schlechte Eltern sind, stellt sich erst hinterher heraus.

Jugendämter unterscheiden aber sehr wohl nach Qualifikationen. Die „Profi“-Eltern kommen immer dann ins Spiel, wenn es um sogenannte Erziehungsstellen geht. Hinter dem etwas sperrigen Begriff steckt eine spezielle Betreuungsform der Jugendhilfe im Rahmen der Hilfen zur Erziehung gemäß §33 SGB VIII Absatz 2. Dabei handelt es sich um ein öffentliches Familiensystem, das mit Fachstellen, Institutionen und Trägern zusammenarbeitet, um Kindern, die aus schwierigen Verhältnissen stammen, ein stabiles Zuhause zu bieten.

Wobei nicht jeder, der sich berufen fühlt, Erziehungsstelle werden kann. Das ist der Unterschied zur Pflegefamilie. Es können nur diejenigen Erziehungsstelle werden, die qualifiziert sind, also eine pädagogisch-medizinische Ausbildung haben. Das macht sie in den Augen der Jugendämter zu „Profis“. Das können Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Erzieher oder Kinderpfleger sein. Keine Rolle spielt dabei, ob es sich um eine alleinerziehende Mutter, ein gleichgeschlechtliches Paar oder, ganz klassisch, um Mutter und Vater handelt, die schon zwei leibliche Kinder haben.

Peter Schönrock, Leiter SOS-Kinderdorf Niederrhein

Peter Schönrock, Leiter SOS-Kinderdorf Niederrhein

Auch das SOS-Kinderdorf Niederrhein ist seit Kurzem auf der Suche nach Personen, die sich vorstellen können, Erziehungsstelle zu werden. „Vor einiger Zeit haben uns verschiedene Jugendämter, unter anderem auch aus Kleve und Kevelaer, in Gesprächen den Bedarf signalisiert“, berichtet SOS-Kinderdorf-Leiter Peter Schönrock. Die Organisation engagiert sich seit Jahrzehnten in der Kinder- und Jugendhilfe. Allein im Kinderdorf Kleve-Materborn leben bis zu 100 Kinder zwischen drei und 18 Jahren in Kinderdorffamilien und Wohngruppen, deren Eltern sich aus verschiedenen Gründen nicht um sie kümmern können. Erziehungsstellen, als kleinste Betreuungsform, gehörten bislang nicht zum Portfolio. Doch die Nachfrage ist groß.

Es gibt immer mehr Kinder, die eine Form der Unterstützung benötigen, die über die stationäre oder ambulante Erziehungshilfe hinausgeht. Schönrock spricht in diesem Zusammenhang von „belasteten“ Kindern. Das können Kinder mit Entwicklungsverzögerungen sein oder traumatisierte Kinder, die Entwicklungsrückstände oder herausfordernde Verhaltensweisen aufweisen. Kinder, für die aufgrund ihrer Erfahrungen (Aggressivität, Misshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung, Verwahrlosung) keine normalen Pflegefamilien gefunden werden oder für die eine Heimunterbringung wegen wechselnder Bezugspersonen im Rahmen einer Gruppenbetreuung nicht infrage kommen.

„Solche Fälle haben zugenommen“, berichtet Schönrock. Ein Grund hierfür sei, dass die Kinderschutzkonzepte besser geworden sind. „Wir schauen als Gesellschaft genauer hin. Vor zehn oder 15 Jahren hatten wir noch keine Sozialarbeiter in den Schulen.“ Ob und wann ein Kind aus seiner Ursprungsfamilie herausgenommen und in einer Erziehungsstelle untergebracht wird, entscheidet das Jugendamt.

SOS-Kinderdorf Niederrhein bietet Hilfen zur Erziehung

Judith Haesters leitet den Bereich Erziehungsstellen im SOS-Kinderdorf Niederrhein

Etwa 20 Interessenten haben sich bisher gemeldet, berichtet Judith Haesters, Bereichsleiterin Erziehungsstellen beim SOS-Kinderdorf Niederrhein. Nur fünf seien in die engere Auswahl gekommen. Die Motivation, Erziehungsstelle werden zu wollen, sei unterschiedlich. Das kann mit der eigenen Geschichte zusammenhängen, damit, dass man seine Familie erweitern möchte, nach einer neuen Herausforderung sucht oder ein Kind in die Familienplanung passt. „Es gibt auch Frauen, die einen großen Kinderwunsch haben und ihn sich auf diesem Weg erfüllen möchten. Das darf jedoch nicht im Vordergrund stehen“, sagt Judith Haesters.

Nicht immer stimmen Vorstellung und Realität überein. „Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man unter ständiger Beobachtung steht“, sagt sie. „Der Kinderschutz und das Kinderwohl stehen über allem.“ Die Kinder, die vermittelt werden sollen, sind in der Regel zwischen drei und elf Jahre alt und können im besten Fall bis zu ihrem 18. Geburtstag, manchmal auch darüber hinaus, in der Erziehungsstelle bleiben. Bis das passende Umfeld gefunden ist, vergehen locker sechs bis neun Monate. Diese Zeit sei nötig, um sicher zu sein, dass es von beiden Seiten her passt. Judith Haesters spricht dann von einem „Match“.

SOS-Kinderdorf Niederrhein bietet belasteten Kindern ein Zuhause

Nicht immer stimmen Vorstellung und Realität überein. Rechte, Pflichten, Herkunftssystem – vieles muss im Vorfeld geklärt werden.

„Schon beim Erstgespräch versuchen wir nicht alles rosarot zu malen“, sagt sie. Was folgt, ist die Überlegungsphase („Können wir uns darauf einlassen“) und, sofern die Antwort positiv ausfällt, das Kurssystem, das individuell auf die Erziehungsstelle angepasst wird und zugleich deren Rolle definiert: Welche Aufgaben erwarten mich? Welche Rechte, aber auch Pflichten habe ich? Wie sieht das Herkunftssystem aus? Gibt es einen Vormund? Welcher Kontakt besteht zu den leiblichen Eltern? Gibt es noch andere Bezugspersonen?

Der letzte Schritt ist die Anbahnungsphase zum Kind. Erst wenn alles passt und die neue Familie offiziell vom Jugendamt als Erziehungsstelle akzeptiert worden ist, kann mit der eigentlichen Aufnahme begonnen werden. „Schließlich geht es um eine Dauerunterbringung“, sagt Judith Haesters.

Das SOS-Kinderdorf fördert, berät und unterstützt die Familien, aber es kontrolliert sie auch. „Als Träger ist es unsere Aufgabe aufzupassen, dass es den Kindern gut geht“, sagt Peter Schönrock. Deshalb finden regelmäßige Besuche in den Familien statt. „Mindestens einmal im Monat setzen wir uns zusammen, um zu erfahren, wie es läuft“, sagt Judith Haesters. In einem separaten Termin werde außerdem nur mit dem Kind gesprochen. Darüber hinaus wird alle sechs Monate ein sogenannter Hilfeplan erstellt, in dem zusammen mit dem Jugendamt Ziele definiert werden, wie der Lebensweg des Kindes positiv beeinflusst werden kann.

„Niemand muss perfekt sein“, sagt Schönrock, „aber man muss die Bereitschaft mitbringen, sich weiterzuentwickeln und neue Dinge zu lernen. Das ist eine Aufgabe fürs Leben.“

INFO

Erziehungsbeitrag ist höher als bei einer Pflegefamilie

Finanzielle Unterstützung Die Leistung der Erziehungsstelle wird vom jeweiligen Jugendamt mit Pflegegeldsätzen, Erziehungsbeiträgen und Zuschüssen unter anderem zur Altersvorsorge honoriert. Der Erziehungsbeitrag ist 3,35-mal so hoch wie bei einer Pflegefamilie und beträgt 959 Euro im Monat. Das Pflegegeld beträgt je nach Alter des Kindes seit dem 1. Januar 2021 zwischen 602 und 837 Euro im Monat.  

Träger Das SOS-Kinderdorf ist am Niederrhein in Kleve, Kevelaer, Geldern, Emmerich sowie Duisburg mit mehr als zehn Standorten vertreten. Einer der Tätigkeitsschwerpunkte ist die Kinder- und Jugendhilfe sowie die stationäre und ambulante Hilfe zur Erziehung. Seit Neuestem ist das SOS-Kinderdorf Niederrhein damit beschäftigt, Erziehungsstellen aufzubauen, um Kindern aus „belasteten“ Familien ein neues Zuhause zu vermitteln. Interessenten können sich bei Judith Haesters unter Telefon 0203 39511411 oder per E-Mail an judith.haesters@sos-kinderdorf.de melden.

Den Originalbeitrag finden Sie hier.