Katharina Weigel war SOS-Kinderdorfmutter der ersten Stunde in Kleve. Ihre Kinder sind auch heute noch ihre Familie. Sie blickt zufrieden auf ihre Zeit im Kinderdorf zurück
Es gibt viele unterschiedliche Broterwerbe, aber nur ganz wenige Beschäftigungen, die so gar nichts mit dem Begriff Job gemein haben. Allenfalls mit Beruf im Sinne von Berufung. Kaum jemand weiß das besser als Katharina Weigel (80). Sie ist SOS-Kinderdorfmutter der ersten Stunde in Kleve-Materborn und wurde oft mit der Aussage konfrontiert: „Da hast du aber einen harten 24-Stunden-Job“. Sie widersprach stets und widerspricht noch heute vehement: „24-Stunden Job? Nein! Ein 24-Stunden Leben!“ Eines auf das sie zufrieden blickt. Was sie so noch einmal leben würde, mit allen Höhen und Tiefen. Und heute in gewisser Beziehung ja auch noch lebt, denn ihre Kinder sind ihre Familie geblieben. ,,An meinem 80. Geburtstag waren 48 Kinder, Angeheiratete, Enkelkinder da“, erzählt sie glücklich. 21 Kinder ihrer Kinder sind’s mittlerweile. „Wir sind immer eine Familie geblieben. Auch nach meinem Auszug aus dem Dorf.“ Das war Anfang der 90er Jahre. Katharina Weigel blieb in der Nähe und wohnt auch heute noch in Materborn.
Katharina Weigel vor ihrem ehemaligen SOS-Kinderdorfhaus in Kleve.
© Anke Gellert-Helpenstein
50 Jahre SOS Kinderdorf Niederrhein!
Geboren wurde die warmherzige Frau in Bocholt. Ihr SOS Kinderdorfleben begann sie mit einem Praktikum in Österreich. Es folgte ein Jahr „Mutterschule“ für Kinderdorfmütter, bevor es sie nach Eisenberg/Rheinland-Pfalz verschlug. „Da war Kleve gerade im Aufbau“, erinnert sie sich. „Aber wer wollte schon nach Kleve?“, lacht sie in Erinnerung an damals. Aber sie hat es sich „mal angeschaut“. Was nicht so einfach war, denn niemand in Kleve kannte das Dorf mitten im Wald bei Materborn. „Im März 1967 stand dort, wo heute das Dorf steht, noch ein Bauschild auf einer Sandburg.“ 1969 zog sie dann mit der in Eisenberg aufgebauten Familie nach Kleve. Ihrem ersten SOS-Kinderdorfkind Robert folgten vier Vollwaisen, Geschwister, die Weigels Familie ergänzten. Als sie bei deren Großmutter abgeholt wurden bestand die leibliche Oma darauf, dass die Geschwister nicht getrennt werden: „Die vier gebe ich nur ab, wenn sie zusammen bleiben können.“ Das konnten sie und zogen mit ihrer SOS-Kinderdorfmutter Katharina Weigel und Robert ins Materborner Aufbaudorf.
Keine Auszeiten von der Familie
Die Katharina Weigel anvertrauten Geschwister erzählten damals noch bei ihrer Oma lebend den dort wohnenden Menschen ganz stolz, dass sie nicht etwa in ein Heim kämen, sondern ins SOS-Kinderdorf. Und der Grundsatz ist geblieben: Das SOS Kinderdorf ist eine Familie: Mutter-Kinder-/Geschwister-Haus und Dorf. Dennoch hat sich im Vergleich zu Weigels Anfangszeiten viel geändert. Das SOS Kinderdorf gilt nicht mehr als „exotisch“, fügt sich gut in den Klever Ortsteil ein. Alle Häuser wurden 2003 umgebaut, vergrößert. Die SOS-Kinderdorfmütter und –väter haben längst alle eine staatliche pädagogische Ausbildung. Außerdem gehören zu jeder Familie auch zwei staatlich geprüfte Erzieher und Pädagogen.
Sie alle haben geregelte Arbeitszeiten und Urlaub. Auch wenn Weigel schon Anspruch auf Urlaub hatte, so nahm sie sich keine Auszeit von der SOS Familie. „Entweder gingen die Kinder ins Ferienlager oder sie fuhren mit mir in den Urlaub. Meine Familie wohnte ja in Bocholt und dorthin fuhr ich auch mit sechs Kindern. Meine Mutter war deren Omi.“ Apropos sechs Kinder: Das sechste Kind war auch das jüngste: Das größte Glück für die Kinderdorffamilie war ein Baby, welches als Säugling in die Familie zog und sie komplettierte. „Etwas besseres hätte uns als Familie gar nicht passieren können“, strahlt die SOS-Kinderdorfmutter noch heute. Mittlerweile sind die wenigsten Kinder Waisen, die in den Dörfern leben. Heute kommen die Kinder über Gerichte und Jugendämter in die Dorffamilie, bleiben manchmal nur Wochen oder Monate. Manchmal Jahre. Elternarbeit (mit den leiblichen Eltern der SOS-Kinderdorfkinder) nimmt viel Platz im Alltag der Familien ein.
Weigel: „Bei mir kamen die Kinder der ersten Generation als Waisen ins Haus und sie blieben. Ich habe sie als meine Kinder angenommen.“ Manche Kinder blieben auch, nachdem sie die Schule hinter sich hatten und in Kleve vor Ort eine Ausbildung antreten konnten. Das war eher nicht die Regel, denn nach der Schulzeit gab und gibt es die sogenannten „Jugendhäuser“, die sich um die Heranwachsenden kümmern.
Regelmäßige Besuche
Nach der ersten Generation im SOS-Familienhaus mit den sechs Kindern folgte für Weigel übrigens noch eine weitere Generation. „Nach und nach vier Geschwisterkinder“, berichtet die Mutter, die mit 55 Jahren als SOS-Kinderdorfmutter in die damals übliche „Entpflichtungszeit“ ging – sprich: Weigel hatte keine Präsenzpflicht mehr, konnte sich eine eigene Wohnung nehmen. Aber der Kontakt zum SOS-Kinderdorfteam blieb. Zu den (mittlerweile längst erwachsenen) Kindern sowieso, aber auch zum Team. Etwa zum damaligen „Dorfmeister“ Klaus Deipenbrock. „Der war klasse, er hat überall mit angepackt und geholfen. Wir treffen uns heute noch regelmäßig mit ihm und weiteren Kinderdorfmitarbeitern von früher“, freut sich Katharina Weigel und besucht noch heute regelmäßig den Ort ihres Lebens, wo die Kinder ihre Mutter fanden und die SOS-Mutter ihre Kinder.
Quelle: Neue Rhein Zeitung vom 7. Januar 2019
Autorin: Anke Gellert-Helpenstein