„Wir wollen mitten drin sein im Quartier“

11. Februar 2019

Ein „Familienforum Kermisdahl“ wächst in der Klever Unterstadt. Peter Schönrock, Leiter des SOS-Kinderdorfs Niederrhein, fordert kostenlosen ÖPNV und kostenlose Kita für einkommensschwache Familien
Kreis Kleve. Das SOS-Kinderdorf Niederrhein ist an über zehn Standorten im Kreis Kleve in den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe sowie der berufliche Bildung aktiv. Zum Abschluss der Serie „50 Jahre SOS-Kinderdorf Niederrhein“ fasst die NRZ ein paar Gedanken und Anliegen des Einrichtungsleiters Peter Schönrock zusammen.
In Kleve hat das SOS-Kinderdorf zwei Adressen, eine außen, eine mitten drin. Draußen in Materborn an der Kuhstraße ist „die Oase Dorf, sie hat einen besonderen Charakter“, gebe die Ruhe, die die dort lebenden Kinder brauchen. Die Älteren – oft ohne Bezugsperson aus der eigenen Familie – aber möchte das Kinderdorf auch nicht mit dem 18. Geburtstag allein in die Welt schicken. Peter Schönrock plädiert für die Finanzierung von Unterstützung wenigstens bis zum 21. Lebensjahr, gern darüber hinaus. Das sei leider nicht mit allen Kostenträgern umzusetzen.
Selbstständig werden, heißt eine Wohnung zu finden. Die sind knapp in der Hochschulstadt Kleve. Deshalb entsteht an der Kermisdahlstraße 1 in der Klever Unterstadt ein neues Wohngebäude mit sechs Appartements für junge Erwachsene ab 18 Jahre, die als „Care Leaver“ (= die den Betreuungsstatus verlassen) in die Verselbstständigung gehen. Hinzu kommt eine Wohngruppe mit Elternbesuchsbereich für Jugendliche, zwölf bis 17 Jahre, mit dem Schwerpunkt Rückführung in die eigene Familie.
Für die Elternarbeit ist die Anbindung an das Kinderdorfzentrum Kalkarer Straße 10 hilfreich. Dort wächst ein Familienforum in der Klever Unterstadt nahe des Bahnhofs, nahe dem sich wandelnden Bahnhofsviertel, nahe Hochschule und der Alten Post als Unterbringungsort für Geflüchtete. Dort will SOS die Nachbarn, Familien, Alleinerziehenden, Senioren und Kita-Kinder, Menschen mit Migrationshintergrund und mit Handicap, Jugendliche und junge Erwachsene zusammen bringen. „Wir wollen mitten drin sein im Quartier. Deshalb bauen wir unsere Aktivität zu einem ,Familienforum Kermisdahl’ aus“, sagt Peter Schönrock.
Die Lage nah am Bahnhof macht das Forum per Bus auch aus Düffelward oder Kalkar recht gut erreichbar. Denn auch Kalkar und Bedburg-Hau haben Plätze in SOS-Aktivierungsmaßnahmen eingekauft. Mobilität ist neben der dünneren Auswahl an Arbeitsangeboten und mangelhaften Betreuungsstrukturen eine der Schwierigkeiten in ländlichen Flächenkreisen wie dem Kreis Kleve, erinnert Schönrock. Ein wichtiger Wunsch des SOS-Kinderdorfs ist deshalb, die Mobilität zu erhöhen durch kostenlosen ÖPNV für einkommensschwache Familien.
Verschiedene Probleme
„In unserer Arbeit sehen wir tagtäglich, wie vielschichtig Lebenslagen sein können. Häufig kommen verschiedene Probleme wie Armut, Einsamkeit und Perspektivlosigkeit zusammen“, sagt Sprecherin Katrin Wißen. „Elternarmut ist Kinderarmut, hier setzen wir mit unseren Angeboten an.“
Ein Mosaikstein, damit Erziehende aktiver in der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt teilnehmen, ist das inklusive NRW-Familienzentrum „InKita“ an der Kermisdahlstraße, das gerade von drei auf fünf Gruppen vergrößert wird. Erweiterte Öffnungszeiten über 7 bis 17 Uhr hinaus sind angedacht, um (allein)erziehenden Müttern und Vätern besser Ausbildung oder Berufsleben zu ermöglichen. Schönrock lobt die Stadt Kleve, mit der zurzeit Gespräche über bedarfsgerechte Öffnungszeiten laufen.
Er beklagt aber, dass durch die Kitagebühren Einkommensschwache auch im Kreis Kleve „überproportional stark belastet werden. Schönrock: „Wir wünschen uns von den handelnden Akteuren, Kita-Öffnungszeiten zu erweitern und zu flexibilisieren und Beitragsfreiheit für untere Einkommensgruppen.“
Die Betreuungsquote von Schulkindern im Offenen Ganztag sei viel zu niedrig. „Es gibt keine Regelung, wer die Plätze bekommt.“ Der Betreuungsschlüssel, wie viel Personal sich um wie viele Kinder kümmert, „ist eine Zumutung für die Mitarbeiter, die den Offenen Ganztag gestalten“, sagt Schönrock. Der Offene Ganztag müsse qualitativ und quantitativ ausgebaut werden, brauche mehr Personal, damit nicht Problemkinder von vornherein hinten auf den Wartelisten landen.
„Wir müssen etwas tun für Alleinerziehende“, fordert Schönrock. Teilzeitarbeit müsse sich lohnen, doch Mindestlohn-Bezieher sind oft Arbeitslosengeld-II-Aufstocker. Und echte Teilzeit-Ausbildung gebe es nicht, weil die Berufsschule ganztägig laufe und die Ausbildungsdauer sich nicht verlängere. „Da sind Stellschrauben, mit denen man gut etwas verändern könnte“, appelliert Schönrock.
Das SOS-Kinderdorf stellt für Erziehende Beratung, berufliche und schulische Bildung, etwa Qualifizierungskurse und staatlich anerkannte Ausbildungsgänge Altenpflege (Kalkarer Straße 10) und Bürokommunikation (Bensdorpstraße). Im Angebot „Aktivierung Erziehender“ an der Turm- und Kermisdahlstraße werden Mütter und Väter bei der (Wieder-)Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit unterstützt. Peter Schönrock bittet außerdem: Der Kreis Kleve möge die Ausbildungsduldung für junge Geflüchtete großzügiger handhaben, eine Einstiegsqualifizierung und Berufsvorbereitung ermöglichen.
Bei den ambulanten Hilfen zur Erziehung gehen Fachkräfte in Familien hinein, um sie in schwierigen Lebenssituationen zu stärken. „Wir rennen offene Türen ein, dass es Sinn macht. Die Hilfen sind teuer, aber oft erfolgereich“, sagt Gaby Heiming, stellvertretende Einrichtungsleiterin. ENDE DER SERIE
Von Astrid Hoyer-Holderber

SOS-Kin­der­dorf be­schäf­tigt 300 Mit­ar­bei­ter

  • Am Jä­ger­hof küm­mert sich das Kin­der­dorf um Men­schen, die psy­chisch be­las­tet neue be­ruf­li­che We­ge ein­schla­gen.
  • Be­rufs­vor­be­rei­tung, Um­schu­lung, Qua­li­fi­zie­rung lau­fen auch in Keve­la­er. Jun­ge Er­wach­se­ne mit Han­di­cap wer­den zu Kö­chen und Haus­wirt­schaf­tern aus­ge­bil­det und ko­chen täg­lich bis zu 800 Es­sen in ei­ner Schul­men­sa.
  • 80 Kin­der und Ju­gend­li­che le­ben in Kin­der­dorf­fa­mi­li­en und Wohn­grup­pen. 600 jun­ge Men­schen nut­zen An­ge­bo­te der be­ruf­li­chen Bil­dung.
  • Die Fach­kräf­te des SOS-Kin­der­dorfs Nie­der­rhein – 300 Be­schäf­tig­te und zahl­rei­che eh­ren­amt­li­che Hel­fer – un­ter­stüt­zen jähr­lich rund 1800 Kin­der, Ju­gend­li­che und Er­wach­se­ne.
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Fachtag, Feste und Eröffnungsfeier

Ausblick auf das Jubiläumsprogramm des SOS-Kinderdorfs Niederrhein

Kreis Kleve. Vier größere und einige kleinere Veranstaltungen plant das SOS-Kinderdorf für das Jubiläumsjahr 2019. Das Festprogramm startet am 28. März, mit dem Fachtag „Wege aus der Armutsfalle – Hilfen vor Ort für Kinder und Alleinerziehende“. Von 10 bis 16.30 Uhr werden die Teilnehmer Fachvorträge hören, eine Podiumsdiskussion mit Experten erleben, eine filmische Dokumentation aus dem ländlichen Raum sehen, in Workshops zu verschiedenen Einzelthemen arbeiten, die Ergebnisse diskutieren und Best-Practice-Beispiele erläutert bekommen. „Wir haben bewusst das Thema Armut ausgewählt, denn wir sehen darin einen großen Problemkomplex für Alleinerziehende und Kinder im Kreis Kleve“, sagt Sprecherin Katrin Wißen.
Am 18. Mai steht ein internes Fest im Kinderdorf für aktuelle und ehemalige Dorfbewohner sowie Teilnehmende der beruflichen Bildung und Mitarbeitende an, ehe die Jubiläumsfeierlichkeiten am 27. September ihren Höhepunkt erfahren. Von 11 bis 13 Uhr ist in Kleve ein offizieller Festakt für geladene Gäste geplant, bei dem Joachim Stamp, NRW-Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration, die Festrede halten wird.
Anschließend eröffnet das SOS-Kinderdorf neue Kitagruppenräume und ein Wohnhaus auf dem Gelände zwischen Kalkarer Straße und Kermisdahlstraße in Kleve. Die Eröffnungsfeier ist für die Zeit zwischen 14 und 17 Uhr geplant. „Alle Nachbarn, Freunde, Förderer und interessierte Bürgerinnen und Bürger sind herzlich dazu eingeladen“, sagt Katrin Wißen.
Eine Online-Anmeldung zum Fachtag ist möglich auf www.sos-kinderdorf.de. 
Autor: Niklas Preuten