Alleinerziehende nicht allein lassen

München, 28. April 2022

SOS-Kinderdorf e.V. zum Muttertag: Interview mit Sozialpädagogin Julia Blind vom „Aktivcenter Erziehende“

„Wenn am 8. Mai wieder weltweit Muttertag gefeiert wird, sollten wir vor allem an Alleinerziehende denken“, sagt Julia Blind vom SOS-Kinderdorf Niederrhein. Denn vor allem diese Mütter hat Corona in den vergangenen zwei Jahren vor große Herausforderungen gestellt: Fehlende Kinderbetreuung, Homeoffice, Homeschooling, Einkommenseinbußen, ständige Überlastung, von mangelnden beruflichen Perspektiven ganz zu schweigen. Wie Alleinerziehende ihre Handlungsfähigkeit stärken und damit ihre berufliche Zukunft gestalten können, erklärt die diplomierte Sozialpädagogin vom „Aktivcenter Erziehende“ des SOS-Kinderdorfes Niederrhein. Sie betreut dort überwiegend Mütter, deren Alltag sich in den zurückliegenden Monaten ausschließlich um ihre Kinder gedreht hat. In Planung sind Aktivitäten für geflüchtete Mütter aus der Ukraine, die, jetzt in Deutschland angekommen, häufig alleine Sorge tragen für ihre Kinder. 

Was ist in Ihrer Arbeit, insbesondere mit Alleinerziehenden, anders als vor der Pandemie?

Viele Teilnehmer*innen sind noch mehr vereinsamt und haben kaum soziale Kontakte, denn Freundschaften haben sich während der Pandemie verlaufen. Hinzu kommt Angst vor der Zukunft, ganz konkret schon vor einer nächsten Corona-Welle im Herbst, mit der die Kinderbetreuung wieder wegfallen und eine mögliche neue Arbeitsstelle in Gefahr sein könnte. Unabhängig von Corona sind Alleinerziehende mit vielen Dingen auf sich gestellt und haben sehr unterschiedliche Bildungshintergründe. Häufig leben sie auch in beengtem Wohnraum. Nicht alle Kinder haben eigene Schreibtische, geschweige denn ein eigenes Zimmer. Wir begleiten viele, die am Monatsende oft nicht wissen, wie sie Lebensmittel bezahlen sollen. Wir sprechen hier von Armut: Elternarmut ist Kinderarmut.  

Welche Job-Perspektiven haben Alleinerziehende?

Unser Ziel ist es, ihnen Unterstützung und Möglichkeiten anzubieten, um perspektivisch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Denn nur, wer auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen kann, hat die Chance, die Armut hinter sich zu lassen. Zudem wollen wir gemeinsam eine verlässliche Betreuungsstruktur aufbauen. Aktuell haben wir 18 Frauen unterschiedlicher Herkunft hier – wir versuchen, einen Schutzraum für sie und ihre Kinder zu schaffen. Sie brauchen Sicherheit, um wieder einen Job annehmen zu können und ein intaktes Familienleben aufzubauen. 

Wie kann der Weg dieser Frauen aussehen?

Er ist sehr vielschichtig, individuell und kleinteilig. Die eine Teilnehmerin erweitert zunächst ihre Sprachkompetenz, da sie noch nicht so lange in Deutschland lebt. Bei der anderen Teilnehmerin geht es um konkrete Erziehungsfragen für ihr Kleinkind, das mitten in der Trotzphase ist. Wir bieten immer auch wieder Hilfestellung bei der Strukturierung des Familienalltags. Denn dies ist das Fundament für den Aufbau neuer beruflicher Perspektiven. 

Sprich, es geht um die Stärkung der Handlungsfähigkeit?

Richtig. Wir diskutieren mit den Frauen, wie sie ihre Fähigkeiten künftig im Beruf wie privat nutzen können und wo Stolpersteine liegen. Dies vor dem Hintergrund, dass die Frauen oft schon selbst vorbelastet sind. Jetzt stehen wir obendrein vor der großen Herausforderung, mit den Konsequenzen der Pandemie umzugehen.

Können sich Teilnehmer*innen auch fortbilden oder Schulabschlüsse anstreben?

Ja, beides ist möglich. Zum Beispiel kommt jeweils mittwochs eine Lehrkraft zu uns, die mit den Teilnehmer*innen Grundlagenwissen vermittelt. Es geht dabei auch um Themen wie Arbeitsrecht. Zusätzlich bieten wir zwei Mal wöchentlich einen Deutschkurs sowie einmal wöchentlich einen Alphabetisierungskurs an, um Lesen und Schreiben zu lernen. Wir haben aber auch junge Mütter hier, die bei uns den Hauptschulabschluss machen. Aktuell bereiten sich vier junge Frauen unter 25 Jahren darauf vor. Im besten Fall bestehen sie den im Juni 2022 und haben dann einen Schulabschluss. Zeitgleich versuchen wir, mit ihnen eine berufliche Perspektive zu erarbeiten. 

Welche Zweige sind denn besonders gefragt?

Beliebt sind Berufe im Einzelhandel und in der Pflege. Wobei das für Alleinerziehende mit der Kinderbetreuung wegen langer Schichtzeiten schwierig ist. Denn wir haben Probleme, dass besagte Kinder einen Platz in einer offenen Ganztagesschule bekommen. Die Plätze sind rar und werden bevorzugt an Bewerber*innen vergeben, die arbeiten. Aber wie sollen Alleinerziehende in der Pflege Arbeit bekommen, wenn sie Kinder um 11.30 Uhr abholen sollen? Hier beißt sich die Katze in den Schwanz.

Sollte es bei den Teilnehmer*innen zu akuten Krisen kommen, was dann?

Wir praktizieren Achtsamkeitsübungen, vor allem bei Frauen, die psychisch vorbelastet sind. Viele von ihnen hatten in ihrer Vergangenheit traumatische Erlebnisse und leiden noch heute an Panikattacken und Schlafstörungen, um nur einige Symptome zu nennen. 

Wie lange können Alleinerziehende das Programm in Anspruch nehmen?

Unsere Frauen werden leider nur ein Jahr zugelassen, das ist die maximale Förderzeit. Unserer Erfahrung nach ist das zu wenig. Wir merken, dass die Frauen – unabhängig von Corona – erst einmal Zeit brauchen, um hier anzukommen und sich zu öffnen. Um Vertrauen zu schaffen, müssen und wollen wir mit ihnen auf Augenhöhe zusammenarbeiten.  Ich selbst bin nicht nur Pädagogin, sondern auch Mutter mit allen Stärken und Schwächen. Wir sind da, um die Frauen zu unterstützen, nicht um sie zu belehren. Das ist meine persönliche Haltung, mit der ich seit vielen Jahren sehr gut fahre. 

Helfen sich die Teilnehmer*innen auch untereinander?

Zum Glück ja. Oft lernen die Frauen sich hier besser kennen und bilden untereinander ein Netzwerk. Das sehen wir als großen positiven Nebeneffekt. Somit erleben sie, dass Kinder allein aufziehen keine Seltenheit ist. Die Illusion einer glücklichen Familie ist bei ganz vielen Frauen tief verankert. 

Nehmen auch alleinerziehende Männer an diesem Programm teil?

Wir haben nicht viel Nachfrage von Männern. Und wenn sie bei uns sind, schrecken sie wohl davor zurück, nur unter Frauen zu sein. Ich bin über diese Entwicklung selbst verwundert, schließlich gibt es immer mehr allein erziehende Väter.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich würde mir wünschen, dass es auch weiterhin Maßnahmen wie das Aktivcenter gibt oder das Angebote für Eltern sogar ausgebaut werden. Wir müssen doch die Basis schaffen, dass diese Menschen überhaupt berufstätig werden können. Zumal hier in unserer Region die Nachfrage wesentlich höher ist als das Angebot. Mindestens so wichtig wäre mir, dass man der Gruppe der (Allein)Erziehenden wertschätzender und wohlwollender entgegentritt. Immer noch und gerade durch Corona verstärkt, ist diese Rolle mit einer enormen Belastung und Erwartungshaltung behaftet. Der Spagat zwischen dem traditionellen Rollenbild der fürsorglichen Mutter, dem Wunsch nach Gleichberechtigung und geteilter Haus- und Familienarbeit bringt viele Eltern tagtäglich an ihre Belastungsgrenze.

Konnten Sie schon geflüchteten Müttern aus der Ukraine helfen?

Noch nicht, aber das ist in Planung. Unsere Aufgabe im Aktivcenter wird es dann sein, die Frauen maximal bei der Bewältigung ihrer traumatischen Erlebnisse und ihren neuen Alltags zu unterstützen. Wir werden ihnen auch dabei helfen, ihre äußere und innere Sicherheit wieder zu erlangen und sich und ihre Kinder zu stabilisieren. Natürlich werden wir ihnen mit einem offenen Ohr zu begegnen, um zu erfahren, was sie und ihre Kinder benötigen. Um sie dann – je nach Länge des Aufenthaltes – auch in der Entwicklung einer beruflichen Perspektive in Deutschland zu unterstützen.

 

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