Ein Interview mit Anna-Lena (20 Jahre alt), einer Teilnehmerin aus dem Projekt „Schritt für Schritt“ bei den Jugendberufshilfen im SOS-Kinderdorf Lippe
Schritt für Schritt – ein wichtiges Projekt für Jugendliche.
© SOS-Kinderdorf e.V. / Foto: Sebastian Pfütze
Warum haben Sie sich für das Projekt entschieden?
Auf Empfehlung meines beschäftigungsorientierten Beraters des Jobcenters Lippe bin ich in das Projekt gekommen. Ich hatte zu der Zeit viel Stress zu Hause. Meinem Vater ging es nicht gut und meine Mutter, die meine wichtigste Bezugsperson war, ist 2019 nach der Trennung von meinem Vater nach Fuerteventura ausgewandert. Dort lebt sie nun und für mich war es nicht leicht mit meinem psychisch kranken Vater zusammen zu leben. Wir haben nur noch gestritten und 2019 habe ich dann meine Sachen gepackt und bin in eine kleine Wohnung nach Horn-Bad Meinberg gezogen. Ohne Arbeit und selbst psychisch krank, hat man mir das Projekt zur Stabilisierung empfohlen.
Wie war Ihr Ankommen im Projekt?
Zunächst habe ich Kontakt per Mail gesucht, da es mir durch meine Sozialphobie sehr schwer fällt zu telefonieren. Mein zuständiger Berater im Jobcenter hat mir einen Flyer über das Projekt ausgehändigt, wo alle wichtigen Daten draufstanden. Ich habe dann eine Mail geschrieben und mich kurz vorgestellt. Schnell habe ich Antwort erhalten und bis zum Erstgespräch habe ich mich mit meiner Bezugsbetreuerin per Mail ausgetauscht. Meine Bezugsbetreuerin war sehr höflich und einfühlsam, so dass ich nach einiger Zeit auch physisch in das Projekt einmünden konnte. Dort bin ich von den anderen Teilnehmenden nett aufgenommen worden, auch wenn mir die Situation, täglich unter Menschen zu sein, nicht leicht fiel. Ich habe aber dann gemerkt, dass ich hier unter Gleichgesinnten bin und dass die Menschen mir zuhören. Seit dem 15.01.2020 bin ich nun im Projekt.
In welchen Bereichen werden Sie unterstützt?
In meiner Bezugsbetreuerin habe ich eine wichtige Ansprechpartnerin gefunden, zu der ich mit meinen Problemen kommen kann. Sie hört mir zu und ist eine emotionale Stütze für mich. Gerade dann, wenn es mir nicht so gut geht und ich einen inneren Druck verspüre weiß ich, ich kann mich an sie und das gesamte „Schritt für Schritt“-Team wenden. Seit Oktober 2020 bin ich auch nicht mehr täglich im Projekt, sondern werde ambulant betreut. Die Zeit von Januar bis Oktober habe ich im Projekt genutzt, um mich zu stabilisieren und mir eine Tagesstruktur anzueignen. Ich möchte mehr auf eigenen Beinen stehen.
Welche Kräfte haben Sie mobilisiert, um den Schritt der Verselbstständigung zu gehen?
Das ist eine gute Frage. Ich weiß nur so viel, dass man sich seinen Ängsten stellen muss. Psychische Krankheiten sind keine Entschuldigung wohl aber eine Erklärung für Verhalten. Ich war irgendwann an einem Punkt wo ich zu mir gesagt habe, entweder ich mache jetzt mit meinem Leben Schluss, oder ich lasse mich auf Positives ein und was soll ich sagen: „Positives ist passiert!“
Können Sie das Positive näher beschreiben?
Ich bin schon fast mein ganzes Leben ein großer Rammstein Fan. Die Musik hat mich durch viele schwere Zeiten in meinem Leben gebracht. Die Karten für das Rammstein Konzert in Dresden waren innerhalb weniger Minuten ausverkauft und ich dementsprechend enttäuscht. Ein paar Monate später sah ich auf facebook, dass ein zusätzliches Kartenkontingent für das Konzert zur Verfügung steht. Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt und was soll ich sagen: Ich hatte eine Karte ergattert. Das Konzert war einer der schönsten Tage meines bisherigen Lebens. Ich konnte es voll auskosten und als Highlight durfte ich auch noch Backstage auf die Aftershowparty „Danke, Universum!“ Wenn man positiv denkt, dann passieren auch positive Dinge.
Hat sich in Ihrem Leben etwas verändert, seit Sie an dem Projekt teilnehmen?
Ich habe nach wie vor schlechte Phasen aber ich nehme wahr, dass die Abstände der depressiven Episoden länger werden und ich Strategien entwickelt habe, die mir dabei helfen, diese besser zu bearbeiten. Um es mal bildlich auszudrücken: Dunkler Schleim wabert um mein Gesicht herum, aber mittlerweile sind die Augen frei und ich kann besser sehen.
Was genau machen Sie dann um den dunklen Schleim los zu werden?
Ich habe schon immer viel Geschrieben. Das hilft mir dabei, meine Gedanken zu sortieren. Ich bin auch viel in der Natur und meditiere. Deshalb würde ich wahrscheinlich auch nie in eine Großstadt ziehen sondern eher in eine ländliche Gegend. Bei starker situationsbedingter Anspannung oder bei Druck helfen mir manchmal lustige Tiervideos, die heben dann etwas meine Stimmung oder lenken mich einfach ab. Wenn es besonders schlimm ist, dann hilft bei mir auch heiß duschen oder die „5-Minuten-Technik“. Dann rauche ich eine Zigarette, das hilft mir dann mich wieder zu erden. Wichtig ist aber, dass man die Gefühle immer zulässt und achtsam mit sich selbst und seiner Umwelt ist. Klar, Depressionen machen es schwer, aber eine positive Einstellung kann dabei helfen, diese besser zu verarbeiten. Ich bin achtsamer mir gegenüber geworden.
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Nächstes Jahr wollte ich eine Ausbildung zur Tierpflegerin beginnen. Aber aktuell erscheint mir alles so surreal. Die Corona-Situation tut ihr Übriges dazu. Die Gesellschaft fühlt sich für mich ziemlich gespalten an. Ich finde, dass es zwei Lager gibt; diejenigen, die sich für die Umwelt einsetzen, eine tolerante Gesellschaft und ein miteinander pflegen und die gegen Kriege sind. Und dann diejenigen, die nur an ihren Vorteil denken. Große Konzerne, die immer mehr Geld verdienen wollen und denen es egal ist, was das für Folgen hat. Das ist auch der Grund, warum ich kein Kind haben möchte. Es geschieht so viel Schreckliches auf der Welt. Da fällt es mir manchmal schwer den Fokus wieder mehr auf mich zu richten. Aber ich denke auch nicht allzu viel an die Zukunft. Ich lebe im „Hier und Jetzt“. Morgen könnte mir bereits etwas passieren, deshalb versuche ich die kleinen positiven Dinge wahr zu nehmen und das zu schätzen was ich bereits habe.
Das Interview führte Andrea Habig, Bereichsleiterin bei den Jugendberufshilfen im SOS-Kinderdorf Lippe.